Frauen protestieren in Ankara für Reformen

Türkisches Parlament debattiert seit gestern Verfassungsänderungen. Regierungspartei AKP kippt Quotenregelung

ISTANBUL taz ■ Insgesamt 40 Frauenorganisationen hatten gestern zu einem Protesttag vor dem Parlament in Ankara aufgerufen, und viele waren gekommen. „Wir wollen eine wirkliche Reform und keine Floskeln auf dem Papier“, sagte die Sprecherin Türkan Saylan, gegenüber der Zeitung Radikal. Seit Tagen beherrscht die Debatte um Frauenrechte die türkischen Medien.

Grund dafür sind die Verfassungsänderungen, über die gestern die Parlamentsdebatte begann. Zehn Artikel der Verfassung sollen abgeschafft oder neu eingefügt oder ergänzt werden. Darunter so wichtige Themen wie die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte, die parlamentarische Kontrolle des Militärbudgets und das Verbot der Todesstrafe. Diskutiert aber wird hauptsächlich über die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Mann und Frau. Aufgrund jahrelanger Lobbyarbeit diverser Frauenorganisationen sah der Entwurf für den neuen Verfassungsartikel „Männer und Frauen sind gleichgestellt“ ursprünglich vor, den Staat zu beauftragen, diese Gleichstellung durch Quotierungen im öffentlichen Dienst und andere Maßnahmen aktiv zu unterstützen. Damit dies nicht zu Klagen von Männern führt, sollte in dem Artikel auch stehen, dass „vorübergehende Maßnahmen zur Herstellung der Gleichheit“ (sprich Quotierung) nicht als Diskriminierung angesehen werden.

Diesen Zusatz kantete die Mehrheit der islamischen Regierungspartei AKP im zuständigen Parlamentsausschuss vor wenigen Tagen aus der Vorlage. Eine Quotierung im Parlament, so Burhan Kuzu, Ausschussvorsitzender der AKP, sei nicht sinnvoll, weil das Parlament doch häufig bis spät nachts tage und Frauen nicht mehr nach Hause fahren könnten.

Die Stellungnahme von Kuzu löste Empörung aus. Die Opposition, die die Forderungen der Frauen unterstützt, bezeichnete die Äußerung als charakteristisch für das Denken der AKP-Mehrheit gegenüber Frauen. Oyu Arasli, Abgeordnete der oppositionellen CHP, begründete, warum die Türkei eine positive Diskriminierung von Frauen und Mädchen dringend nötig hat. „Noch immer sind sechs Millionen Frauen Analphabeten, und ein Drittel aller Mädchen geht nicht zur Schule.“

Gleichzeitig mit den Verfassungsänderungen setzte die Regierung von Tayyip Erdogan gestern durch, dass Absolventen der religiösen „Imam Hatip Schulen“ die eigentlich nur der Ausbildung von Predigern dienen, zukünftig anderen Abiturienten gleichgestellt werden und jedes Fach an der Universität studieren dürfen. Für die Opposition ein klares Indiz, dass die Regierung den säkularen Charakter der Hochschulen aushöhlen will. Aufgrund der großen Mehrheit der AKP gehen alle Beobachter davon aus, dass die Verfassungsreformen im Parlament verabschiedet werden. Gegen die Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte und die stärkere Kontrolle des Militärs hatte es keine Proteste aus den Streitkräften gegeben. Der EU-Botschafter in Ankara, Hans-Jörg Kretschmer, äußerte sich zufrieden über die Reformen, sieht aber im Bereich der Religions- und Meinungsfreiheit weiter Handlungsbedarf. JÜRGEN GOTTSCHLICH