Demokratie, jetzt!

Die rot-grüne Bundesregierung sollte den EU-Gipfel in Thessaloniki zum Anlass nehmen, um eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung in die Wege zu leiten

Eine europäische Verfassung braucht die unmittelbare Zustimmung der europäischen Völker

Es wird hoch hergehen in Thessaloniki. Der Entwurf einer Verfassung für die Europäische Union soll heute auf dem EU-Gipfel als eine historische Sternstunde der europäischen Einigung gefeiert werden. Doch nüchtern betrachtet besteht wenig Anlass für eine „Ode an die Freude“. Denn von einer EU-Verfassung sind wir nach wie vor weit entfernt. Und ob diese Verfassung schließlich demokratische Legitimität genießen wird, steht ebenso in den europäischen Sternen.

Der EU-Konvent ist die erste Etappe in einem sehr viel längeren Entscheidungsprozess. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diese erste Etappe wird heute in Thessaloniki symbolisch abgeschlossen. Symbolisch deshalb, weil der Konvent seine Arbeit in Wirklichkeit noch gar nicht erledigt hat. Der Verfassungsentwurf ist erst zu drei Vierteln fertig gestellt. Für das letzte Viertel hat dem Konvent schlichtweg die Zeit gefehlt. Er wird daher noch Wochen, vielleicht Monate weiterarbeiten müssen.

Bei diesem Nachsitzen geht es nicht um konstitutionelle Peanuts. Offen geblieben ist bislang der gesamte sachpolitische Teil des Verfassungsentwurfs, also die Politikfelder. Darin sind die Politikfelder zu beschreiben, die ganz oder teilweise in die Zuständigkeit der EU fallen – oder fallen sollen, was in einigen Fällen noch gar nicht entschieden ist.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Konvent muss noch darüber befinden, ob für Beschlüsse über das Asylrecht im EU-Ministerrat weiterhin Einstimmigkeit erforderlich ist oder ob künftig qualifizierte Mehrheiten entscheiden können. Die Klärung dieser Frage ist politisch hochbrisant. Für Deutschland beispielsweise hängt daran das Schicksal des Zuwanderungsgesetzes.

Obwohl unvollständig, enthält der vorliegende Konventsentwurf eine Reihe von Neuerungen. Die wichtigsten sind in den letzten Wochen häufig genannt worden: Die Grundrechtscharta wird in der Verfassung verankert, das Amt eines EU-Präsidenten und eines EU-Außenministers eingerichtet, die EU-Kommission ab 2009 auf 15 stimmberechtigte Mitglieder verkleinert. Auch die Rechte des Europäischen Parlaments sollen gestärkt werden.

Weniger bekannt sind jene neuen Elemente im Verfassungsentwurf, die der Konvent vor allem mit Blick auf die Kritiker und Gegner der EU beschlossen hat. Dazu gehört das lange geforderte Recht auf Austritt aus der EU, die Präzisierung des Subsidiaritätsprinzips (also wer darf was auf welcher Ebene beschließen), die klarere Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen EU und Nationalstaaten sowie die stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente auf Unionsebene.

Angesichts der Lücken im Verfassungsentwurf einerseits und der zum Teil weit gehenden Reformen andererseits verwundert die aktuelle Festtagslaune in der EU. Hinter der vermeintlichen Konsensstimmung steckt freilich das Wissen der politischen Akteure, dass der EU-Konvent letztlich eine völlig unverbindliche Veranstaltung ist.

Übersetzt auf bundesdeutsche Verhältnisse können wir uns den Konvent am besten als eine große Enquetekommission vorstellen, die gerade einen Vorschlag zur Reform des Grundgesetzes ausgearbeitet hat und nun dem Gesetzgeber zur weiteren Beratung und Beschlussfassung zuleitet. In der EU heißt der Gesetzgeber in diesem Fall Ministerrat, sprich: die Regierungen der Mitgliedstaaten. Und das Beschlussverfahren heißt Regierungskonferenz.

Die Regierungskonferenz wird die zweite Etappe auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung sein. Sie soll im Herbst unter der EU-Präsidentschaft Italiens eröffnet werden und sich nach Möglichkeit schon bis Jahresende über einen Verfassungsvertrag einigen. Inwieweit das vom Konvent mühsam zusammengezimmerte Verfassungsgerüst bei den Regierungsverhandlungen hinter verschlossenen Türen wieder demontiert wird, lässt sich heute noch nicht absehen. Was sich aber schon jetzt abzeichnet, sind rasch wachsende Demontageabsichten.

Großbritannien will weder einen EU-Außenminister noch die Grundrechtscharta akzeptieren. Polen und Spanien stellen die veränderte Stimmgewichtung im Ministerrat infrage. Irland, Österreich, Schweden und einige der Beitrittskandidaten melden Vorbehalte gegen die vereinbarte Verkleinerung der Kommission an. Die luxemburgische Regierung wiederum findet den Verfassungsentwurf insgesamt nicht integrativ genug und plädiert für Neuverhandlung.

Die Feierstunde in Thessaloniki wird auf diesem Hintergrund zu einem Gradmesser besonderer Art: Je lauter das europäische Verfassungspathos, das die Gipfelteilnehmer anstimmen, desto größer ist ihre heimliche Furcht, dass der Konventsentwurf die bevorstehende Regierungskonferenz nicht überlebt.

Sollte der Verfassungsentwurf nach Abschluss der Regierungskonferenz gleichwohl Bestand haben, ist der Entscheidungsprozess damit immer noch nicht beendet. Im Gegenteil. Erst auf der anschließenden dritten und letzten Etappe wird sich wirklich zeigen, ob die Union der „Staaten und Bürger“, wie es im Verfassungsentwurf heißt, ihren Namen verdient. Dann nämlich geht es um die demokratische Legitimation der Verfassung in den Mitgliedstaaten.

Viele europäische Staaten sehen in Verfassungsfragen eine Volksabstimmung vor. Im Konvent haben sich 92 von 105 Mitgliedern für den Vorschlag ausgesprochen, die EU-Verfassung durch Volksabstimmungen in allen Mitgliedstaaten zu ratifizieren. Mit gutem Grund: Eine europäische Verfassung braucht die unmittelbare Zustimmung der europäischen Völker. Andernfalls wäre sie am Ende nur eine Verfassung der Staaten, nicht aber ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Je lauter das europäische Verfassungspathos, desto größer die Furcht, dass der Entwurf nicht überlebt

Dessen ungeachtet planen die meisten Mitgliedstaaten, wie bei früheren Vertragsreformen zu verfahren und allein ihre Parlamente abstimmen zu lassen. Nur die Regierungen von Irland und Dänemark haben bereits einen Volksentscheid über die EU-Verfassung zugesichert. In Frankreich, Italien, Österreich und Portugal wird die Frage wenigstens öffentlich diskutiert. Schweden und England lehnen ein Referendum dagegen strikt ab.

Und Deutschland? Zumindest auf Länderebene haben auch wir eine Tradition für Volksabstimmungen in Verfassungsfragen. Wir haben zudem eine rot-grüne Bundesregierung, die sich den Ausbau der direkten Demokratie auf ihre Fahne geschrieben hat. Und wir haben einen Außenminister Fischer, der schon vor Beginn des Konvents angeregt hatte, beim Vorliegen eines Verfassungsvertrags über einen Volksentscheid nachzudenken.

Der richtige Zeitpunkt dafür ist nun gekommen. Die Bundesregierung sollte den EU-Gipfel zum Anlass nehmen, den Weg für eine nationale Volksabstimmung über eine künftige EU-Verfassung zu bereiten. Es wäre immerhin das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass die Deutschen die Chance erhielten, sich auf demokratische Weise zur Integration in Europa zu bekennen.

CARSTEN SCHYMIK