Hamburger werden Matrosen

Der Traum von einer ungewissen Ferne: „La Paloma“ ist die inoffizielle Nationalhymne der Deutschen. Am Sonntag beim Hamburger Hafengeburtstag wird nun ein Weltrekordversuch im „La Paloma“-Singen gestartet, und Vollmatrose Freddy Quinn singt aus voller Kehle vorweg

von Marc Peschke

Was haben Dean Martin, Elvis Presley, Rudolf Schock, Freddy Quinn, Roy Black, Jerry Lewis, Ivan Rebroff, Nina Hagen, Heino, Julio Iglesias, James Last, Hazy Osterwald und Hans Albers mit etwa 5000 weiteren Musikern gemeinsam? Ganz einfach: Sie alle liebten jene Zeilen: „Ein Wind weht von Süd und zieht mich hinaus auf die See / Mein Kind sei nicht traurig, tut auch der Abschied weh / Mein Herz geht an Bord und fort muß die Reise gehen / Dein Schmerz wird vergehen und schön wird das Wiedersehen.“

Sie erinnern sich? Genau: „La Paloma“, das Lied über einen Mann, der seinen Weg zu gehen hat, der fortgehen muss an einen Ort, den er mit der blauen Ferne nur höchst ungenau beschreibt – ganz so, als wollte er sicher gehen, dass ihm garantiert keiner folgt. Dieser Mann lässt sich treiben vom Wind des Lebens und hat nur ein paar Sätze Trost übrig. Weine nicht, mein Kind, die Tränen sind vergebens: „La Paloma – ohé / Einmal muß es vorbei sein.“ Die neue Braut, das ist die See – und nur ihr gilt es, von nun an treu zu sein.

Klar, „La Paloma“ kennt fast jeder. Komponiert von dem Basken Sebastián de Iradier y Salaverri, erschien in den 1860er Jahren eine erste deutsche Fassung des exotistischen Gassenhauers. Seitdem spielen viele Menschen verrückt, wenn „La Paloma“ in der Luft liegt. Im vergangenen Jahr ergab eine große ARD-Umfrage doch tatsächlich, dass „La Paloma“ der Deutschen Lieblingslied ist. Gewissermaßen unsere eigentliche Nationalhymmne.

Fünftausend verschiedene Aufnahmen von „La Paloma“ gibt es, der NDR entdeckte kürzlich etwa 500 in seinen Archiven – und plötzlich ist Hamburg aus dem Häuschen. Im Rahmen des Hafengeburtstags sollen die Bewohner der Hansestadt jetzt einen neuen Weltrekord aufstellen: NDR 90,3 initiierte das weltgrößte La Paloma-Singen, spielt zur Zeit kurz vor 9 und kurz vor 18 Uhr zwei La Paloma-Versionen täglich – und beim Hafengeburtstag dürfen alle Hamburger mitsingen.

Chorleiter der ganzen Sache ist natürlich Freddy Quinn – der Mann, der Wirtschaftswunderschunkeldeutschland „La Paloma“ gelehrt hat. Und so geht das: Am Sonntag wird Freddy Quinn um 17.30 Uhr, also eine halbe Stunde vor der großen Auslauf-Parade, gemeinsam mit einem Chor an Bord der Rickmer Rickmers das Lied anstimmen. Wenn‘s klappt, sind etwa 100.000 Hamburger mit dabei – eine ziemlich sichere Möglichkeit, selbst zum Rekordhalter im Guiness-Buch der Rekorde zu werden. Keine schlechte Sache, das, möchte man den Radiomachern und Organisatoren zurufen. Südseeschlager und Fernweh haben noch niemandem geschadet, und obskure „La Paloma“-Versionen klingen immerhin besser als der vollkommen sehnsuchtsfreie öffentlich-rechtliche Dudelfunk.

Und irgendwie stimmt es ja schon: Ganz egal, wer „La Paloma“ komponiert hat, und obwohl es die ganze Welt singt, ist es vor allem unser Hamburger Lied, wie der NDR auf seinen Internetseiten klarstellt: Es schwebt über St. Pauli, am Abend auf der Reeperbahn. Man glaubt, es am frühen Sonntagmorgen auf dem Fischmarkt zu hören. Und auch der Wind an der Elbe trägt die Töne von „La Paloma“ in die Stadt. Man muss sie nur hören wollen.

La Paloma-Fans unter den taz-Leserinnen und -Lesern sei die NDR-„La Paloma“-CD allerdings erst an zweiter Stelle zum Kauf empfohlen. Die mit Abstand heißeren „La Paloma“-Versionen hat das Münchner Label Trikont schon seit einigen Jahren gesammelt. Vier CDs mit sorgfältig dokumentierten, immer neuen, verrückten Tango-, Twist-, Reggae- und Punkversionen aus Sansibar, Finnland oder Kuba sind bisher bei Trikont erschienen. Fast schon eine Parallelgeschichte der Popmusik – und ein Ende der Erfolgsschmonzette ist nicht in Sicht.

Weltrekordversuch im La Paloma-Singen mit Freddy Quinn: 9. Mai, 17.30 Uhr, Rickmer Rickmers, Hafen Hamburg