Kurzfristig verschulden, langfristig sanieren

Wirtschaftsforscher für große Steuerreform, mehr Schulden und Abschied vom Maastricht-Defizit-Ziel

BERLIN taz ■ Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat gestern den theoretischen Hintergrund für Bundeskanzler Gerhard Schröders (SPD) neue Finanzpolitik ausgebreitet. Die Steuerreformstufe 2005 solle auf kommenden Januar vorgezogen und das dadurch entstehende zusätzliche Defizit durch höhere Schulden gedeckt werden, erläuterte DIW-Chef Klaus Zimmermann in Berlin. Außerdem rät er den EU-Staaten, das Defizit-Ziel im Maastrichtvertrag abzulösen und durch ein Ausgabenziel zu ersetzen. In der Kombination könnten beide Maßnahmen dazu führen, wieder Wirtschaftswachstum zu erzeugen.

Nachdem in den vergangenen Jahren die Sparpolitik ganz oben auf der politischen Agenda stand, ist die Bundesregierung jüngst auf einen Kurs eingeschwenkt, der dem von Zimmermann skizzierten entspricht. Der DIW-Chef plädiert nun dafür, das zusätzliche Defizit im Jahr 2004 in Höhe von rund 18 Milliarden Euro durch eine höhere Nettokreditaufnahme zu schließen. Es sei nicht sinnvoll, so Zimmermann, Bürgern und Wirtschaft mit dem Vorziehen der Steuerreform zusätzliches Geld zu geben, es ihnen andererseits durch den geplanten Abbau von Subventionen gleich wieder zu entziehen. Folgerichtig erläuterte der DIW-Chef, dass Deutschland den Maastrichtvertrag weder 2003 noch 2004 einhalten könne. Beide Male werde die Neuverschuldung über den zulässigen 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts liegen.

Das Maastricht-Kriterium sei ohnehin ein „zweifelhaftes“, so Zimmermann. Anders als im Vertrag vorgesehen, diene es nicht mehr der „Stabilität“ und dem „Wachstum“. Ganz im Gegenteil verschärften die Sparanstrengungen die konjunkturelle Schwächephase. Das DIW setzt sich dafür ein, das Defizit- durch ein Ausgabenkriterium zu ersetzen. Die staatlichen Ausgaben sollen nur um 3 Prozent pro Jahr wachsen dürfen. Im Bundeshaushalt würde das eine Ausgabensteigerung von etwa 7,5 Milliarden Euro im nächsten Jahr bedeuten. In Zeiten der Schwäche würde der Wirtschaft damit genug Geld für Investitionen zur Verfügung stehen. In Zeiten ökonomischer Prosperität wären die Ausgaben dagegen gedeckelt. Aus dem dann höheren Wachstum würden die Schulden der Vergangenheit zurückgezahlt.

Ein „Europäischer Rat der Wirtschaftsweisen“ solle die Einhaltung des Ausgabenkriteriums überwachen, schlägt das DIW vor. Dieser müsse aus unabhängigen Experten bestehen und außer der Verschuldung und der konjukturellen Lage „weitere wichtige Indikatoren“ bewerten, so dass eine Fokussierung auf einen einzigen, sekundären Indikator vermieden würde.

„Ich sehe einen Stimmungsumschwung“, sagte Zimmermann. Ob der Kanzler persönlich sich von ihm habe beraten lassen, wollte der Ökonom gestern nicht erläutern. HANNES KOCH

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