Durchgangslager Paris

„Mademoiselle, ich tue nur meine Pflicht“, sagt der Polizist: „Das ist unsere Republik“

aus Paris DOROTHEA HAHN

Als die Polizisten vor ihm standen, hat Delr sofort das einzige französische Wort gesagt, das er kennt. Jaza hat es wiederholt: „Asyl.“ Aber die Polizisten haben nicht reagiert. Sie haben den beiden jungen Männern Handschellen angelegt, ihre Namen aufgeschrieben, dazu den Namen ihres Landes gesetzt: „Irak“ und sie zur Wache gebracht. Erklärungen gab es nicht. Delr und Jaza mussten warten. Bis sie die Polizei gegen Mittag wieder laufen ließ.

Jetzt, am frühen Nachmittag, ist es zu spät, um noch einen Asylantrag zu stellen. Die Behörde hat geschlossen. Und Delrs und Jazas Mut ist weg. Dabei hatten die beiden fest vor, ihre lange und heimliche Reise an diesem Vormittag zu beenden. Um sechs Uhr waren sie auf der Baustelle aufgestanden, hatten die Kartons, in denen sie schlafen, aufeinander gestapelt und waren über das hohe rote Metalltor auf die kleine Straße im zehnten Pariser Arrondissement geklettert. Von der Baustelle sind es nur fünf Minuten zu Fuß bis zum Park Alban Satragne. Dort warteten Pariser Bürger, die sie zu der Behörde begleiten wollten. Die Franzosen hatten ihnen bei einer Rechtsberatung empfohlen, einen Asylantrag zu stellen. Zusammen mit Delr und Jaza wollte ein Dutzend anderer junger Männer zu dem Treffpunkt kommen. Die Hälfte blieb unterwegs in Polizeikontrollen hängen.

Nun sind sie also unverrichteter Dinge wieder im Park Alban Satragne im zehnten Pariser Arrondissement angekommen. In einem Blumenbeet holt ein Stadtgärtner verwelkte Stiefmütterchen aus dem Boden. Auf dem frisch geharkten Weg in der Mitte gehen Delr, 24 Jahre alt, und Jaza, 21 Jahre, auf und ab. Sie haben die Hände in den Hosentaschen vergraben und schweigen.

Auf einer Bank zeigt ein Kurde aus dem Irak die „Empfangsbestätigung“, die ihm am Morgen die Behörde ausgestellt hat. Ein halbes Dutzend Hände greift nach dem Papier. Aber er gibt es nicht aus der Hand. Es ist sein erstes Ausweispapier. Sein einziges. Darin steht, dass er sich im Oktober wieder vorstellen muss. Dass er sich für die Zeit seines Verfahrens legal in Frankeich aufhält. Und dass er nicht arbeiten darf.

Fast 70 junge Männer verbringen ihre Tage in dem Park. Er liegt ein paar hundert Meter von den großen Bahnhöfen entfernt, von denen die Züge in Richtung Norden und Osten abfahren. Er ist eingerahmt von einer Post, von einem Krankenhaus und von einem Stadtteil, in dem afrikanische Friseure, pakistanische, indische und kurdische Restauranteurs sowie Drogenhändler und Prostituierte ihre Geschäfte betreiben. Die jüngsten Männer im Park sind noch nicht volljährig. Die ältesten knapp 30 Jahre. Die meisten stammen aus dem Irak, andere aus Iran, Afghanistan und Kaschmir. Manche sind seit Monaten unterwegs. Andere seit Jahren. Fast alle wollten ursprünglich nach Großbritannien, manche auch nach Skandinavien und nach Deutschland. Frankreich war niemandes Ziel.

Unterwegs hat ihnen die europäische Politik die Wege versperrt. Als sie in Frankreich ankamen, waren die Grenzen dicht. Zuletzt haben der französische Innenminister und sein britischer Kollege die Fluchtwege über den Ärmelkanal unpassierbar gemacht, auf denen 60.000 Menschen nach Großbritannien gelangt sind – angezogen von den ehemals etwas liberaleren Bestimmungen des Landes. Ende vergangenen Jahres schloss die französische Regierung das Durchgangslager vom Roten Kreuz in Sangatte am Ärmelkanal und errichtete noch höhere und noch schärfer bewachte Zäune rund um den Hafen von Calais und längs der Schienenstrecke des „Eurostars“, der von Paris nach London fährt.

Mit dem Unterschlüpfen auf Fährschiffen und dem Aufspringen auf Züge ist es seither vorbei. Unterkunft, Essen und medizinische Versorgung gibt es auch nicht mehr. Die Nachkommenden auf den Fluchtrouten stranden an Orten, zu denen sie nie wollten. Orte, an denen sie nichts zu tun haben, an denen niemand auf sie wartet und von denen aus sie nicht weiterkommen.

Delr und Jaza waren Kleinkinder, als ihr Land Krieg gegen den Iran führte. Beim nächsten Krieg, als nach dem Überfall auf Kuwait eine internationale Koalition gegen den Irak kämpfte, konnten sie schon lesen. Als Kurdistan autonom wurde, steckten sie im Stimmbruch. Den dritten Krieg und den Sturz Saddam Husseins erlebten sie in der Türkei.

Die beiden haben sich im Mai vergangenen Jahres aufgemacht. Als der hagere Delr seiner Mutter in Halabja sagte, dass er gehen würde, war sie erleichtert. „Sie hatte jede Nacht Angst um mich“, erzählt der Sohn. Zu Hause arbeitete er als Fahrradverkäufer und er war politisch aktiv. Worin seine politische Aktivität bestand, will er nicht erzählen. Nur, dass zum Schluss immer mehr Kameraden spurlos verschwanden. Sein Freund Jaza hingegen hat seinen Geburtsort Darbandkan, wo er in einem Gemischtwarenladen arbeitete, ohne ein Wort des Abschieds verlassen. „Ich bin wegen meiner Mutter gegangen“, sagt er. Jaza war fünf, als sein Vater sich weigerte, für Saddam Hussein in den Krieg gegen den Iran zu ziehen. Der Vater floh in die Berge. Kurz darauf fand man seine Leiche neben der Kaserne. Dass seine Mutter später einen anderen Mann geheiratet hat, kann Jaza ihr nicht verzeihen.

Kennen gelernt haben sich Delr und Jaza auf der Ladefläche des Lkw, der sie in die Türkei brachte. Seither sind sie unzertrennlich. Zusammen haben sie heimlich gearbeitet, heimlich gegessen, heimlich geschlafen und immer aufgepasst, keine Spuren zu hinterlassen. „Bloß keine Fingerabdrücke“, haben ihnen die Männer von der Mafia gesagt, die sie für viel Geld ein Stück in Richtung Europa transportiert haben.

Zusammen haben Delr und Jaza in der Türkei Polizisten bestochen, die ihre Papiere sehen wollten. Zusammen sind sie in der Schweiz, auf dem Bahnhof von Basel, anderen Polizisten in die Arme gelaufen und haben auch da schon versucht, Asylanträge zu stellen. Aber die Schweizer Polizisten wollten davon nichts wissen. Beschlagnahmten ihre Uhren und das Geld und setzten die beiden jungen Männer in einen Zug nach Italien. Auf der anderen Seite der Grenze erhielten Delr und Jaza ihre Sachen zurück. Bloß das Geld fehlte. Tags drauf überquerten die beiden die Grenze nach Frankreich. Sie hatten von dem Park Alban Satragne gehört. „Dort findet ihr Leute, die weiterhelfen können“, hatte man ihnen gesagt.

Fünf bärtige Männer mit weißen Turbanen und Bäuchen, über denen hellblaue Djellabahs wehen, treten in einer geschlossenen Reihe vor den Park. Junge Männer umringen sie. „Kommt in unsere Moschee“ fordern die Bärtigen die Flüchtlinge auf, „das Wort Gottes hören.“ Die Bärtigen sind Türken. Mit den Flüchtlingen sprechen sie Arabisch. „Zuerst müssten wir uns einmal waschen“, sagt ein Flüchtling. „Wir leben wie Obdachlose“, sagt ein anderer. Ein alter Franzose, der jeden Nachmittag eine Plastiktüte voller Gebäck in den Park bringt, „damit die Jungen etwas im Bauch haben“, schimpft: „Seit wann haben Türken etwas für Kurden übrig?“

Die Bärtigen huschen davon, wie sie gekommen sind. Lautlos. Kaum sind sie verschwunden, taucht ein halbes Dutzend Polizisten vor dem Park auf. Aus ihren Walkie-Talkies piepst es. Ihr Chef zittert vor Aufregung. Der hemdsärmelige blonde Offizier verlangt die Ausweise aller umstehenden Europäer, gibt ihre Daten per Walkie-Talkie durch. Und fragt jeden, ob er etwas „Verdächtiges“ beobachtet habe. Ein Anwohner habe angerufen und die Verteilung eines „islamistischen und antiwestlichen Flugblattes“ angezeigt. Die Flüchtlinge, die eben noch mit den Bärtigen gesprochen haben, interessieren den Polizisten nicht.

Zuletzt machten die Regierungen die Fluchtwege über den Ärmelkanal dicht

Eine blonde junge Frau drängt sich vor den Offizier. „Es ist eine Schande für unsere Republik, dass Sie unschuldige Menschen wie Verbrecher behandeln“, schimpft sie. Sie meint nicht die Bärtigen. Sondern die Flüchtlinge. „Sie hindern sie daran, einen Asylantrag zu stellen“, sagt die Frau, „und Sie schikanieren Minderjährige, die in Gefahr sind.“ „Mademoiselle“, antwortet der Polizeioffizier, „ich tue meine Pflicht. Wenn ich jemanden ohne Papiere antreffe, muss ich ihn festnehmen. Das ist unsere Republik.“

Die junge Frau gehört zu jenen Franzosen, die sich um die Flüchtlinge im Park Alban Satragne kümmern. Sie kommen von Menschenrechtsorganisationen und von Gewerkschaften und sie engagieren sich nach Feierabend. Sie besorgen Notunterkünfte, Medikamente und Informationen. Und für die Minderjährigen im Park versuchen sie, die französische Staatsangehörigkeit zu beantragen, die ihnen laut Gesetz unter bestimmten Bedingungen zusteht.

Der Staat schickt niemanden in den Park, um sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Der Bürgermeister von Paris und der Sozialminister schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Unterbringung der Flüchtlinge zu. Der Innenminister betrachtet das Problem als erledigt, seit er den Ärmelkanal flüchtlingssicher gemacht hat. Und der Direktor des Flüchtlingsamtes findet es „seltsam“, dass die Polizei Flüchtlinge auf dem Weg zum Asylantrag festnimmt. Fügt aber hinzu, dass sie „jederzeit wieder versuchen können, einen Antrag zu stellen“.

Delr und Jaza wissen, dass ihre Chancen, eines Tages Asyl in Frankreich gewährt zu bekommen, winzig sind. Sie wollen es trotzdem versuchen. In den Nächten auf der Baustelle und den Tagen im Park haben sie beschlossen, in Frankreich zu bleiben. Und nach einer Arbeit zu suchen. „Egal welche“, sagt Delr. „Der Irak hat uns verloren“, sagt Jaza. „Wir gehen nur zurück, wenn es bei uns so wird wie in Frankreich“, sagt Delr.

Bevor der Wächter die Metalltore des Park Alban Satragne schließt, erfahren die Flüchtlinge von einer Armenspeisung auf dem Vorplatz der Börse. „ 20 Minuten“, meint Delr, als er sich mit Jaza auf den Weg macht. An der Börse stellt sich heraus, dass die Armenspeisung an diesem Abend verlegt ist: an die Mauer des Friedhofes Père Lachaise. Für Delr und Jaza sind das 55 Minuten mehr. Sie legen alle Wege in Paris zu Fuß zurück. Für Metrokarten haben sie kein Geld. Schwarzfahren ist zu riskant. Wenn sie erwischt werden, stehen wieder Polizisten vor ihnen, fragen nach den Papieren, legen ihnen Handschellen an und nehmen sie mit auf die Wache.