Vergiftende Heimat

Ledig, verheiratet, Nonne, Lehrerin: Ist das alles, was Mädchen vom Leben erwarten dürfen? Die Geschichte von einer, deren Schutzengel sie vor alldem bewahrte

von FRANZA ZELLER

„Was möchtest du werden?“ Das fragen Erwachsene die Kinder gerne. Jener Onkel auch, der seine Neffen und Nichten dabei mit Vorliebe in die Wangen kneift. Wie eine Walze sieht das Mädchen den Mann auf sich zu rollen. Ausweichen zwecklos. Schon bringt er seinen Zeige- und Mittelfinger in Stellung und hängt an der Backe, zieht und schüttelt daran und fragt nach den Berufswünschen. So geht Begrüßung auf dem Land.

Dem Onkel trage ich das bis heute nach. Wenn er mich fragt: „Und, was ist aus dir geworden?“ antworte ich: „Eine Backenkneiferhasserin!“ Immerhin war er der Gebildetste aus der Verwandtschaft, er wird es verstehen. „Blut verbindet, davon bin ich überzeugt“, gibt er zur Antwort und spielt auf meinen Familienstand an: ledig.

Der Onkel hat ein CDU-Parteibuch. Damit war er mal Bürgermeister. Im Grunde ist er nicht wichtig. Der Backenkneifer ist harmlos gewesen in meinem Dorf. Da gibt es andere, die schlimmer waren: der Pfarrer und der Lehrer, der Wild hieß. Dazu noch Axel, der meinte, ich verpasse was, wenn ich mich nicht anfassen ließe. Ständig kreuzte so einer auf. Sein Name wechselte, sein Ansinnen nicht. Hartmut oder Dieter oder Erich – wenn ich sie sehe, zufällig auf meinen Besuchen im Dorf, ist mein Kopfnicken eine Verneinung.

Den Backenkneifer muss ich trotzdem erwähnen, weil er der Mann war von Julia. Meiner Lieblingstante. Sie starb, als ich fünf Jahre alt war. Seither ist sie mein Schutzengel. Fast vierzig Jahre lang schon. Woher ich das weiß? Ich weiß es nicht. Julia hat mich nie gefragt, was ich werden wolle, als sie noch lebte. Sie ist vor mir in die Knie gegangen und hat mich geherzt. Nicht an meine Mutter, an Julia habe ich Erinnerungen aus dieser Zeit. Ich sehe ihr Wohnzimmer vor mir, das eine Tür direkt in den Garten hatte.

Kein Rasen, statt dessen zwei Schritte, und ich stehe im Erdbeerfeld. Dem Paradies. „Nonne“, habe ich geantwortet, wenn jemand nach meinem Berufswunsch fragte und sie dabei stand. Sie hat nie gelacht, nie „so so“ gesagt, weil das Religiöse ja ernst zu nehmen ist, das Kind aber nicht.

Zuletzt habe ich Julia an Ostern gesehen. Zwei Monate vor ihrem Tod. Ich habe mich in das Zimmer im oberen Stock des Bauernhofes geschlichen, wo meine Mutter und Julia und all die anderen Tanten geboren worden waren. Manche denken, dass das Haus meines Großvaters einmal ein Kloster war. Meterdicke Mauern, winzige Fenster. 1615 die Jahreszahl am Eingang zum Keller.

Die Tür ins Krankenzimmer knarrte beim Öffnen. „Komm rein“, sagte der Backenkneifer, der bei Julia am Bett saß. Es war das Bett meiner Großmutter. Dorthin hat man sie gebracht und bis zum Tod gepflegt. Ich ging zu ihr und ließ mich in den Arm nehmen. „Warum bist du krank?“, fragte ich. Draußen schien die Sonne. Die Stimmen von meinen Brüdern, meinen Cousins, Cousinen waren zu hören. Am Ostersonntag durften wir alle beim Großvater essen und Eier suchen.

Julia hat mir keine Antwort geben können. Sie hatte Krebs. Ich sollte mich auf einen Stuhl am Krankenbett setzen. Meine Beine baumelten in der Luft. Ich war sprachlos. Der Backenkneifer hat mir von ihrem Krankensaft zu trinken gegeben. Seither suche ich in allem nach diesem Geschmack.

Als sie bald danach starb, weinte ich nicht, weil ich nicht wusste, was Sterben war. Wohl aber war das ganze Dorf traurig. Die Leute waren dagegen, dass eine so jung gehen muss. „Warum nimmt er nicht mich?“, klagte die alte Frau Hirtz. Sie wollte endlich ihren Willi und die zwei Buben wiedersehen. Sie hat mit Gott gehadert, weil er sie zum Leben zwang, wo er doch zugelassen hatte, dass der Krieg ihre Familie auslöschte.

Überhaupt der Krieg. Im Dorf war er überall, obwohl er fast schon ein Vierteljahrhundert vorbei war. Vor unserem Haus lag noch immer der Felsblock, der vom Bombeneinschlag dahin geschleudert wurde. Auch der Postbote hinkte vom Krieg. Für den Bruder der Mutter wiederum musste gebetet werden. Vielleicht kommt er ja doch zurück. Immer wieder hatten sie von solchen Wundern gehört. Wenn er kommt, übernimmt er die Landwirtschaft.

Außer ihm gab es nur Mädchen in der Familie, die können das nicht. „Bist ja doch nur ein Ripp“, pflegte mein Großvater – der Patriarch, der Angehimmelte, der Scheinheilige – zu seinen Töchtern zu sagen. Auch zu mir. Rippchen sind essbar, nicht achtenswert. Das erklärt sein Begehren. Am Ende seines Lebens hatte er Angst, dass ich ihn verrate. Neugierige Kinder wissen immer zu viel.

Klosterschwester, schien mir, müsse ich werden. Denn von den drei Berufen, die es auf dem Dorf für Frauen gab – ledig, verheiratet und Nonne – war der noch der schönste. Das wusste ich mit fünf Jahren. Nachdem Julia tot war, liebte ich die Kindergartenschwester vom Heiligen Kreuz. Sie lachte gerne und viel. Anders als die ledigen Tanten, denen Mitleid und Lächerlichkeit entgegenschlug. Vergiftende Mischung. Die Verheirateten wiederum waren nicht besser dran, nur dass sie selbst mitleidig auf die Ledigen schauten.

Mein Vater, der Mann meiner Mutter, war kein Böser, geschlagen hat er sie nie. Nach ihrem Tod klagte er, dass ihm nun der Handlanger und Kommandant fehle. Das hat er gesagt, weil er Wertschätzung nur Dingen entgegenbringen kann und weil in ihm drin der Krieg nie aufgehört hat. Zu merken ist es daran, dass bis heute jedes ernsthafte Gespräch mit ihm bei seinen Erlebnissen endete, die er zwischen 1941 und 1945 hatte. Als er eingezogen wurde, war er achtzehn Jahre alt.

In den Dörfern war nicht nur der Krieg ständig anwesend, auch die dazu passende Unterwerfung unter Schicksal und Obrigkeit wollte nicht aufhören. Ein Pfarrer, ein Lehrer, ein Arzt, der hat in so einer Gemeinschaft Autorität, selbst wenn er sie nicht verdient.

Am 14. Juli war der Pfarrer geboren. „Dem katorse Schüljet.“ So dicht am Rhein ist mit dem Französischen leicht zu kokettieren. „Le böff, der Ochs, la wasch, die Kuh, ferme la porte, die Tür mach zu“, das kann hier jeder aufsagen. Aber dass der Pfarrer, der alle Mädchen im Beichtstuhl fragte, ob sie mit ihren Brüdern da unten in der Unterhose herumgespielt haben, 125 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille zur Welt gekommen war – das gönne ich ihm nicht. Mich aber hat er vor dem Kloster bewahrt.

Ohnehin hatte ich, als ich in die Schule kam, den vierten Beruf für Frauen kennen gelernt: Lehrerin. Die ersten zwei Jahre schien das eine Lösung. Später merkte ich, dass auch Männer Lehrer sein dürfen und war entsetzt.

Jeder kennt jeden im Dorf, aber alle halten still. Der Pfarrer hantierte noch mit einem Stock im Religionsunterricht herum. Seine Tatzen waren gefürchtet. Immerhin, er hat sich nie einen einzelnen rausgesucht, wie der Lehrer Wild, sondern alle in der Klasse mussten ihm ihre Hände hinstrecken, damit er zuschlagen kann.

Der Wild aber hat sich welche herausgepickt. Lasse hieß der aus unserer Klasse, der von ihm fast täglich über die Bank gelegt wurde. Hose runter, draufhauen. Wir anderen haben die Luft angehalten. Die Eltern haben es hingenommen. Mir hat Lasse einmal drei Muscheln geschenkt. Die eine glatt wie Marmor. Die zweite ein stachliges, gewundenes Schneckenhaus. In der dritten ist das Meeresrauschen zu hören. Weil ich damals so gerne seinen Schmerz gelindert hätte, es aber nicht konnte, deshalb behalte ich sie.

Neulich war ich zu Besuch bei meinem Vater. Ich kam über Straßburg und brachte aus Frankreich Melonen mit. „Das erinnert mich an Odessa“, sagte er. Ich kenne die Geschichte, die nun kommt: Die jungen Soldaten klauen Melonen, aber sie schmecken ihnen nicht. Ein paar Früchte lassen sie auf dem Panzer liegen. Am nächsten Morgen sind sie kühl und zuckersüß. „Die Geschichte hast du schon oft erzählt“, sage ich. „Melonen, das hat man doch vorher gar nicht gekannt“, meint er.

„Vater, spürst du in dir drin Schuld?“ Das wollte ich immer schon wissen. „Warum?“ fragt er. „Weil du, seit ich dich kenne, dasselbe erzählst. Als wolltest du etwas loswerden. Wirst es aber nicht“, antworte ich. „Was denn?“ Da, plötzlich stelle ich die Frage nach dem Mörder in ihm: „Vielleicht hast du jemanden erschossen?“ – „Ich war doch beim Nachschub“, verneint er. „Vielleicht hast du jemandem Essen weggenommen.“ – „Nein, aber ich wurde mal beklaut“, entrüstet er sich. „Vielleicht hast du eine Frau vergewaltigt.“ „Einmal hatte ich Gelegenheit dazu, aber ich war zu besoffen“, antwortet er. „Du wusstest, dass andere es tun.“ Er zuckt mit den Schultern. Ich auch.

Mitten im Dorf steht eine Kirche. Man sieht den Turm schon von weitem. Das soll Heimat sein? Es ist.

FRANZA ZELLER, Jahrgang 1961, sagt zu ihrer Erzählung: „Nur die Namen sind falsch. Meiner und der der anderen, bis auf jenen vom Lehrer. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Aber falls ihn jemand kennt, bitten Sie ihn, sich bei Lasse zu entschuldigen.“