Amsterdam, routiniert liberal

Wo man gerne exzessiv leben und lieben darf

Ich tue jetzt etwas absolut Idiotisches, es ist so heiß hier, aber ein Lied zu singen, das so heiß ist wie Amsterdam“: So kündigte einst wohlgelaunt alkoholisiert Hildegard Knef auf einem Konzert ihre bezaubernde Interpretation von Jacques Brels „Amsterdam“ an, ein Lied, das wohl wie kein anderes unser kollektives Unterbewusstsein in Sachen Grachtenmetropole abbildet. Sex, Drugs (legal käuflich) and Rock ’n’ Roll, und alles ziemlich exzessiv.

Auch wenn es den Stadtvätern nicht immer passt, es wird wohl immer so bleiben, Amsterdam gilt seit der Nachkriegszeit als (schwule, lesbische) Möglichkeitsmetropole. Hafenstadt und niederländische Toleranz, die Klischees werden hier mit Leben gefüllt. Homosexualität ist in den Niederlanden seit 1911 straffrei; am 1. April 2001 trat dort das weltweit einzige, weil geschlechtslose Partnerschaftsgesetz in Kraft. Auch wenn der Ruf Amsterdams als Homohauptstadt Europas in den Achtzigerjahren leicht ramponiert wurde – wegen Aids, wegen der Verlottertheit der Szene überhaupt –, gibt es dort immer noch ein vitales Milieu, tendenziell etwas derber akzentuiert.

Besonders dreist war man hier immer schon: Bereits im 17. Jahrhundert lag das Cruisinggebiet direkt vor dem Rathaus, auf demselben Platz, wo die „Sodomiten“ damals noch geköpft wurden. Die „verkeerde Liefhebbers“ waren in den Niederlanden also nicht immer beliebt. Während jedoch die schwule beziehungsweise lesbische Emanzipation in Deutschland durch die Naziherrschaft um Jahrzehnte zurückgeworfen wurde, konnte die „Niederländische homophile Bewegung“ 1946 fast nahtlos an die Fortschritte der Vorkriegszeit anknüpfen.

Während des Krieges war das Amsterdamer Rotlichtmilieu übrigens ein Nest des Widerstandes gegen die Nazibesatzung, wie Polizeiakten belegen, mühten sich auch die niederländischen Schwulen rege, die deutsche Wehrkraft zu zersetzen, und zwar auf sehr schöne Weise: Es kam wiederholt zu strafrechtlich relevanten „Kontakten“ mit deutschen Soldaten.

Heutzutage tobt das schwullesbische Leben in vier Bezirken. Auf dem Stadtplan anzukreuzen sind die Regulierwardsstraat, die Kerkstraat, die Amstel und die Warmoestraat (hier die beliebte Fetischbar „Dirty Dicks“).

Ein luftigeres Vergnügen verheißt der jährliche Königinnentag zu Ehren von Königin Beatrix. Am 30. April gibt es über die ganze Stadt verteilt Straßenfeste, und am Homo-Monument (Westermarkt) das homosexuelle Roze Wester Festival. Die Christopher Street Day Parade verläuft in Amsterdam, natürlich, als Schiffsumzug in den Grachten.

Der CSD könnte in Zukunft wieder politischer verlaufen, denn die Ermordung des wohl prominentesten Schwulen der Niederlande, Pim Fortuyn („Ich habe nichts gegen Muslime, ich schlafe sogar mit ihnen“), hat im Land der Toleranz einiges ins Rutschen gebracht, unter anderem das niederländische Selbstverständnis als liberale Gesellschaft. MARTIN REICHERT