Fluchtversuche aus dem Öko-Gulag

Eine ökologische Diktatur terrorisiert Eurasien im Jahr 2040 – so steht es geschrieben in Vladimir Sorokins Satire „Schtschi. Krautsuppe, tiefgefroren“. Peter Kastenmüller setzt im Gorki Theater auf deren kannibalistische Fantasien

In Diktaturen geraten ja gelegentlich ganze Berufsgruppen unter Druck. In Vladimir Sorokins Satire „Schtschi. Krautsuppe, tiefgefroren“, die Peter Kastenmüller jetzt im Studio des Maxim Gorki Theater inszenierte, hat es die Köche erwischt. Wir schreiben das Jahr 2040, und das Vereinigte Eurasien wird längst von den Grünen regiert: als ökologische Diktatur. Der Verzehr von Fleisch ist stengstens verboten, und ein kulinarischer Dissident namens „Borschtsch à la Moskau“ steht vor Gericht. Jahre hat er wegen „Mord an Haustieren“ bereits in Lagern verbracht, von wo ihm immer wieder die Flucht gelang. Nun droht das Sonderstraflager.

Ort des Geschehens ist ein unwirtlicher Plexiglaskasten, der die ganze Bühne einnimmt. Zunächst taucht hier das Richter-Triumvirat auf, in Gewänder mit UNO-, Unicef- und Pace-Logo gehüllt, die Uniform des globalisierten Gutmenschentums. In einer Ecke hockt der Delinquent, auf dem Kopf einen Tierskalp, doch ansonsten eine eher poppige Erscheinung. Zu ihm gesellt sich bald eine schöne Beischläferin namens Larisa, mit der Borschtsch eine sehr spezifische Variante des Fleischgenusses praktiziert, Gott sei Dank meistens im Dunkeln.

Ansonsten freut man sich in den knapp zwei Stunden, die der Abend dauert, hauptsächlich darüber, vom Geschehen auf der Bühne durch eine Glaswand getrennt zu sein. Denn daran bleiben nicht bloß die Schauspieler bei ihren diversen Fluchtversuchen aus Sorokins Öko-Gulag kleben, sondern auch allerlei unappetitliche Substanzen, die sonst direkt ins Publikum geflogen wären. Peter Kastenmüller nimmt nämlich Sorokins kannibalistische Fantasien ziemlich beim Wort: Zungen werden abgebissen, Brustwarzen gerupft und männliche Organe wie Frankfurter Würstchen verspeist.

Ziemlich genau vor einem Jahr glückte im „Theater unterm Dach“ dem Regisseur Renat Safiullin mit Sorokins Stück „Pelmeni“ ein dichter Abend über das verwirrende Leben im postkommunistischen Brachialkapitalismus, gerade weil Safiullin die drastische Fantasie Sorokins völlig unbeeindruckt ließ. Kastenmüller allerdings ist so sehr mit der Inszenierung der Exzesse beschäftigt, dass der Blick auf das Stück völlig abhanden kommt.

Bei aller Drastik handelt es sich nämlich um eine sehr treffsichere Satire auf den gegenwärtigen Zustand Russlands zwischen Verwestlichung, kriminellem Chaos und der Sehnsucht nach alten, sowjetischen Zeiten. Die ökologischen Dissidenten sind weder Sympathieträger noch letzte Heroen der Ausschweifung, sondern miese Typen, in mafiösen Banden organisiert. Gegenseitig versuchen sie, sich eine legendäre Ikone des antiökologischen Widerstandes, eine Sammlung tiefgefrorener Sauerkrautsuppen, abzujagen, die (so will es der Plot des Dramas) ein berühmter Meisterkoch einst in dreißig Rezeptvariationen hergestellt hat: sozusagen Russlands kulinarische Identität.

Am Ende taut die Kostbarkeit im Bandenkrieg, und alles war umsonst. Identität futsch, Zukunft im Eimer und Gegenwart sowieso hoffnungslos. Sorokin, der von der Putin-Regierung mit akribischem Hass verfolgt wird, ist bei näherer Betrachtung ein echter russischer Patriot, der die ökologischen Bewegungen der westeuropäischen Staaten für gefährliche, unrussische Umtriebe hält, im Grund auf altrussische Werte setzt und sein Land für seine Ideallosigkeit verabscheut. Wer, wie im Gorki Theater geschehen, die wüsten Oberflächen seiner Literatur inszeniert, geht am Kern von Sorokins Texten haarscharf vorbei. Denn eigentlich müsste Sorokin russischer Kulturminister werden.

ESTHER SLEVOGT

Nächste Aufführungen am 25., 26. Juni und 4. Juli