Als der Betsaal zur Metzgerei wurde

Abrechnen mit diesen Kommunisten, Sozialisten, Demokraten! Heute vor 70 Jahren begann die „Köpenicker Blutwoche“: Bald nach der Machtergreifung Hitlers verschleppten SA-Horden dutzende ihrer Gegner. Mehr als 23 wurden zu Tode geprügelt

von PHILIPP GESSLER

Was sahen die Sterbenden zuletzt? Den Himmel von Berlin? Er ist noch der gleiche wie damals. Die schweren Deckenbalken des Betsaals? Auch sie stammen noch aus der damaligen Zeit vor 70 Jahren. Wahrscheinlich das dunkle Parkett, auf das ihr Blut tropfte in diesen Tagen vom 21. bis 26. Juni 1933. Das Parkett des Betsaals im früheren Gefängnis des Amtsgerichts von Köpenick ist erhalten geblieben. Und könnte das Eichenholz erzählen, schriee es heraus, was während der „Köpenicker Blutwoche“ hier geschah: wie Menschen zu Tode geprügelt, wie ihr Fleisch und Gehirnteile in Eimern aus der Kapelle getragen wurden.

„Köpenicker Blutwoche“ – man muss die entsetzlichen Augenzeugenberichte lesen, um zu verstehen, wie grausam passend der unmittelbar nach den Ereignissen aufgekommene Begriff für eine Metzelei sondergleichen ist, deren Beginn sich heute zum 70. Mal jährt. Bald nach der Machtergreifung der NSDAP unter Adolf Hitler am 30. Januar 1933 begann der Terror des braunen Regimes gegen seine Feinde, von denen viele sofort verfolgt und manche zugleich in so genannte „wilde KZs“ verschleppt wurden. Besonders verhasst waren den Nazi-Horden natürlich die Kommunisten, mit denen sie sich schon in der Weimarer Republik blutige Straßenkämpfe geliefert hatten. Das galt auch für die Sozialdemokraten, die es gewagt hatten, am 24. März 1933 im Reichstag gegen das „Ermächtigungsgesetz“ zu stimmen, das die Diktatur rechtlich legitimieren sollte. Sobald die Macht des neuen Regimes einigermaßen etabliert war, schlug es deshalb gezielt zu: in Köpenick, einer Hochburg der Arbeiterparteien in Berlin, Wohnort vieler ihrer Funktionäre. Ein (potenzielles) Widerstandsnest sollte ausgeräuchert werden.

Alle Köpenicker SA-Führer besprachen sich in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1933 im Amtsgerichtsgefängnis, wo Sturmbannführer Herbert Gehrke sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte – dann schlug der „Sturmbann 15“ der SA, unterstützt durch den berüchtigten „Maikowski-Sturm“ aus Charlottenburg, zu: Schon am Vormittag des 21. wurden dutzende Kommunisten und Sozialdemokraten in Köpenick verhaftet (einen Tag vor dem offiziellen Verbot der SPD übrigens). Zu ihnen gehörten einfache Arbeiter, aber auch prominentere NS-Gegner wie Johannes Stelling, SPD-Parteivorstandsmitglied, Reichstagsabgeordneter und früherer Ministerpräsident von Mecklenburg. Oder der Sozialdemokrat Paul von Essen, ein Funktionär des Reichsbanners, eines Zusammenschlusses demokratischer Parteien und Gewerkschaften zur Verteidigung der Republik.

Diese Nazi-Feinde und Demokraten wurden an sechs verschiedene Orten in Köpenick gebracht. Neben dem Amtsgerichtsgefängnis selbst waren es vor allem Kneipen, SA-Lokale, in denen sich die braunen Schlägerbanden regelmäßig trafen und betranken. Mit unvorstellbarer Brutalität rechneten die SA-Männer in diesen Lokalen mit ihren Gegnern ab.

Auf dem so genannten Heuboden des SA-Lokals „Demuth“ etwa, der heutigen Pohlestraße 13, vollzog sich eine regelrechte Prügel- und Folterorgie: Der Kommunist Paul Wilczoch, 32, wurde mit brennenden Fackeln ins Gesicht geschlagen, seine Wunden mit Teer begossen. Er musste das Schädlingsbekämpfungsmittel Karbolineum trinken und starb am 30. Juni 1933. „Seine inneren Organe waren völlig verletzt“, erinnerte sich seine Witwe. Um die Schreie der Misshandelten zu übertönen, ließ der SA-Mann Bruno Demuth sein Motorrad im Hof des Lokals Stunden lang leer laufen.

Im Betsaal des Amtsgerichtsgefängnis sah es nach den Erinnerungen eines Augenzeugen aus wie in einer „Metzgerei“. So groß waren die Blutlachen, dass das Blut unter der Tür zum Betsaal hinausgeflossen sein soll. Dortigen Opfern wurden späteren Ermittlungen zufolge Hoden und Nasen abgeschnitten. Die Wände waren bedeckt mit Blutspritzern. Die Misshandelten mussten während der Prügelei das Deutschlandlied singen und sinnlos herummarschieren. Einige sollen sogar gezwungen worden sein, sich gegenseitig totzuschlagen, um dem eigenen Tod zu entgehen. Angeblich.

Viele der Gefolterten litten den Rest ihres Lebens an den Folgen der Misshandlungen. Mindestens 23 Menschen erlagen ihnen – unter ihnen Johannes Stelling und Paul von Essen, der bekannte SPD-Politiker Johann Schmaus und sein Sohn Anton. Die Tragödie der Familie Schmaus ist besonders ergreifend: Als Johann und seine beiden erwachsenen Söhne in der Nacht zum 22. Juni verschleppt werden sollten, drangen SA-Leute in das Haus der Familie in der heutigen Schmausstraße ein. Anton zückte eine Pistole und erschoss drei Nazis in Notwehr. Er konnte zunächst fliehen, wurde aber später von SA-Leuten gefasst und „verhört“. Anton starb am 16. Januar 1934. Sein Vater Johann wurde wahrscheinlich zu Tode geprügelt und dann im Schuppen seines Hauses aufgehängt, um einen Suizid vorzutäuschen. Katharina Schmaus wurde nach dem Tod ihres Mannes Johann gezwungen, Boden und Treppenhaus des Amtsgerichtsgefängnisses zu reinigen.

Nach dem Krieg gab es in Ostberlin einen Prozess gegen 61 Männer, die an der „Köpenicker Blutwoche“ beteiligt gewesen sein sollen. Am 19. Juli 1950 erhielten 39 von ihnen vom Landgericht langjährige Haftstrafen, 16 wurden zum Tode verurteilt. Vier der Todesurteile wurden am 20. Februar 1951 vollstreckt. Der Hauptverantwortliche jedoch, Sturmbannführer Gehrke, wurde nie gefasst. Anfang der Neunzigerjahre versuchten Verwandte eines Täters, das Urteil aufheben zu lassen. Das Landgericht Berlin attestierte jedoch den Richtern des Jahres 1950 einen für damalige Verhältnisse fairen Prozess und erklärte das Urteil für weiter rechtskräftig.

Dennoch ist die „Köpenicker Blutwoche“ ein Zankapfel im Bezirk Treptow-Köpenick geblieben. Die SED funktionalisierte unmittelbar nach dem Krieg das Gemetzel an ihren kommunistischen Helden für ihren eigenen Ruhm – und verband dies mit Polemik gegen die angeblich verräterischen SPD-Politiker im Westen. Deshalb fiel es der SPD trotz vieler eigener Toten nach 1989/90 zunächst schwer, der „Köpenicker Blutwoche“ zu gedenken. Beispielhaft dafür ist der Streit um ein Denkmal, das auf dem „Platz des 23. April“, mitten in Köpenick, steht. Es ist eine Stele, die in eine geballte Faust mündet, errichtet in den Sechzigerjahren.

Das Denkmal zerbröselt langsam. Anfang 1998 forderte die SPD des Bezirks ein neues Denkmal, das an „alle Opfer von Gewalt in der deutschen Geschichte von 1933 bis 1989“ erinnert. Konservativere Politiker verlangten sogar die Entfernung der Faust. Ende vergangenen Jahres beschloss eine vom Bezirk eingesetzte Jury, das Denkmal zu erhalten, es aber in ein Ensemble von „gebrochenen Wegen“ einzufügen: Die Wege sollten an andere Opfer von (diktatorischer) Gewalt erinnern. Dagegen gab es erneut Widerstand. Nach Auskunft der Kultur-Stadträtin Eva Mendl (PDS) ist dieser Beschluss nun wieder in Frage gestellt. Es soll weiter darüber diskutiert werden. Ob die Opfer der „Köpenicker Blutwoche“ diesen Streit verstehen würden?