Gott und die Demokratie

Die Debatten über Asyl, Sicherheitspolitik und Verfassung ähneln sich: Wie demokratisch wird die Union künftig sein?

von DANIELA WEINGÄRTNER

Eigentlich ist Konventspräsident Valéry Giscard d’Estaing ein geschichtsbewusster Mensch. Warum er seine griechischen Gastgeber beim Gipfel in Porto Karras mit einem Zitat des glücklosen athenischen Feldherrn Thukydides in holperigem Griechisch erfreute, bleibt sein Geheimnis. Als ihn die Athenäer rausgeschmissen hatten, versuchte jener General sich als Historiker und sagte den Satz, den Giscard seiner EU-Verfassung voran gestellt hat: „Unsere Verfassung wird Demokratie genannt, weil die Macht nicht in den Händen einer Minderheit liegt, sondern die Mehrheit entscheidet.“

Da Thukydides als Geschichtsschreiber den gewissenlosen Machtmissbrauch durch eine Supermacht – in diesem Fall Athen – genau analysiert hat, passt er immerhin gut zu einem der zentralen Gipfelthemen – dem Strategiepapier, das der außenpolitische EU-Vertreter Javier Solana den Regierungschefs vorlegte. Es enthält mehrere deutliche Botschaften an die derzeit einzige Supermacht USA, nennt zum Beispiel Klimaveränderung und Armut in einem Atemzug mit anderen Bedrohungen wie Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Terrorismus.

Die Staatschefs beugten sich der amerikanischen Paranoia aber doch so weit, dass sie beschlossen, ab Ende 2004 neue Pässe mit biometrischen Merkmalen wie Fingerabdrücken oder der Augeniris-Struktur auszugeben. Die USA macht solche leichter elektronisch überprüfbaren Ausweise zur Bedingung dafür, dass EU-Bürger weiterhin ohne Visum in die USA einreisen dürfen.

Da Armut nach Überzeugung Solanas der grundlegende Auslöser für Konflikte ist, die auch für die Menschen in der Europäischen Union gefährlich werden können, wird er mit einem Randergebnis des Gipfels zufrieden sein: Eine Milliarde Euro will die EU im kommenden Jahr für „hochwertige Gesundheitsvorsorge“ in den von Malaria, Aids und Tuberkulose besonders betroffenen Regionen ausgeben.

Der britische Vorschlag, zentrale Asylbewerberlager außerhalb der Grenzen der EU einzurichten, fand dagegen keine Anhänger. „Europa muss ein demokratisches Gebiet bleiben, wo Asyl gewährt wird und es keine Konzentrationslager gibt“, kritisierte der griechische Außenminister Georgios Papandreou, der selbst zu Juntazeiten als Emigrant in den USA gelebt hat. UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers schickte aus Genf die Mahnung an die Staatschefs, Panikmache zu vermeiden. Er spricht sich aber gleichzeitig dafür aus, Asylbetrüger konsequent abzuschieben. Für Antragsteller aus sicheren Herkunftsländer sollten Sammellager eingerichtet werden.

Der französische Staatschef Chirac, der sich durch seine Blockadehaltung bei der Agrarreform bei allen unbeliebt gemacht hatte, konnte die Kollegen nicht für die Idee begeistern, den französischen Notenbankchef Trichet während des Gipfels als künftigen Chef der Europäischen Zentralbank zu inthronisieren. Ratspräsident Simitis erinnerte daran, dass zunächst die Finanzminister und das Europaparlament sich zu dem Personalvorschlag äußern müssten. Trichet war erst am Mittwoch von einem Pariser Gericht vom Vorwurf der Bilanzfälschung freigesprochen worden.

Auch Giscard dürfte vom Verlauf des Treffens nicht ganz begeistert sein. Die Regierungschefs ließen sich lediglich die Zusage entlocken, den von ihm und einem Konvent ausgearbeiteten Verfassungsentwurf als „gute Ausgangsbasis“ anzunehmen. Joschka Fischer, selbst ein Mitglied des Verfassungskonvents, betonte zwar, es seien nur noch Feinarbeiten zu erwarten. Andere wie der österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel kündigten dagegen an, sie wollten die zentralen Kapitel neu beraten.

Der nun anvisierte Zeitplan ist ein Hinweis darauf, dass die „Revisionisten“ sich durchsetzen könnten. Denn die Regierungskonferenz soll im Oktober beginnen und mindestens sechs Monate dauern. Damit ist der Traum von einer kurzen Verhandlungsrunde, die das Ergebnis des Konvents abnickt, ausgeträumt. Für Giscard d’Estaing ist das eine enttäuschende Wendung. Er mahnte die Regierungschefs, weiterhin die Bürger an der Verfassungsdiskussion zu beteiligen, wie es der Konvent beispielhaft vorgeführt habe.

Eine polnische Journalistin verblüffte ihn sichtlich mit der Provokation, er werde in Polen mit dem russischen Astronauten Gagarin verglichen, der aus dem Weltraum mit dem berühmten Satz zurück gekommen sei, er habe dort oben Gott nicht gefunden. Sie spielte damit auf Giscards Weigerung an, einen Gottesbezug in die Präambel aufzunehmen. Der alte Routinier fand die Sprache dann aber rasch wieder und bat die junge Polin lächelnd um etwas mehr „christliche Nächstenliebe“.