Mozart mit Steinschleuder

Mit seinen 13 Jahren ist der Norweger Magnus Carlsen der zweitjüngste Schach-Großmeister aller Zeiten und drauf und dran, arrivierte Cracks wie Kasparow oder Karpow das Fürchten zu lehren

VON HARTMUT METZ

„Magnus wird Garri Kasparow in zwei oder drei Jahren verprügeln“, kündigte der sonst so bedächtige Großmeister Simen Agdestein an. Sein Schützling Magnus Carlsen hatte soeben gegen den seit zwei Jahrzehnten in der Schach-Weltrangliste führenden Russen ein Remis ertrotzt. Von dem sensationellen Resultat in Reykjavík zeigte sich der Norweger aber keineswegs angetan: „Ich war mit dem 0,5:1,5 gegen Kasparow in den Schnellschach-Partien überhaupt nicht zufrieden. Ich hätte mit Weiß gewinnen müssen – und mit Schwarz spielte ich wie ein Kind!“ Exakt das ist der Knirps. „Der Wunderknabe ist 13 Jahre alt, sieht aber aus wie 8“, bemerkte der ehemalige englische Vizeweltmeister Nigel Short und ergänzte erstaunt, „niemand traute ihm zu, den Goliath zu Fall zu bringen, aber er kam ihm mit der Steinschleuder verdammt nahe.“

Mit der hat Carlsen inzwischen einen anderen Ex-Weltmeister, Anatoli Karpow, erlegt, wenn auch „nur“ in einer fünfminütigen Blitzpartie. Der Junge aus Lommedalen bei Oslo lehrt inzwischen bei jedem Turnier die Arrivierten das Fürchten. Beim Open in Dubai blieb der „Mozart des Schachs“, wie ihn die Washington Post betitelte, letzte Woche ungeschlagen. Carlsen belegte den geteilten zweiten Platz – und noch wichtiger: brachte seine dritte Großmeister-Norm unter Dach und Fach. Damit erhält er vom Schach-Weltverband Fide die höchste Auszeichnung, praktisch den schwarzen Gürtel des Denksports, mit 13 Jahren, drei Monaten und 27 Tagen verliehen. Nur der Ukrainer Sergej Karjakin war rund ein halbes Jahr früher Großmeister als der Skandinavier. Zum Vergleich: Legende Bobby Fischer hielt mehr als drei Jahrzehnte den vermeintlichen „Rekord für die Ewigkeit“, als der US-Amerikaner 1958 mit 15 Großmeister wurde. Kasparow schaffte das erst mit 17.

Dabei begann das Supertalent fast zu spät: mit acht. Zuvor hatte Henrik Carlsen schon die Hoffnung aufgegeben, dass sich sein Sohn ebenfalls so für das königliche Spiel interessiert wie der starke Amateur selbst und dessen Töchter. Doch schon nach wenigen Monaten unterlag Vater Henrik seinem Nachwuchs und gab ihn in die Obhut von Agdestein. Magnus Carlsen akzeptiert den ehemaligen Weltranglisten-16. noch aus zwei Gründen als Trainer: Zum einen sei dieser der einzige stärkere Spieler des Landes. Zum anderen war Agdestein Fußball-Nationalspieler, bevor sich der erste Großmeister Norwegens mit 26 eine schwere Verletzung zuzog und ganz dem Schach widmete. Fußball zählt zu Carlsens größten Hobbys neben Skifahren und Bergsteigen. Bis vor kurzem verschwand der 13-Jährige gerne während der Phasen, in denen seine Kontrahenten verzweifelt grübelten, zum Kicken nach draußen.

Die „Konzentrationsschwierigkeiten, wenn ich nicht gegen einen Großmeister antrete“, sind verschwunden, weil das Wunderkind inzwischen ausschließlich auf Profis trifft. Vater Henrik ließ Magnus für ein Jahr vom Schulunterricht befreien, kündigte seinen Job als Bauingenieur, verkaufte das zweite Auto der Familie und vermietete das Haus, um mit der neuen Hoffnung von Turnier zu Turnier zu ziehen. Das finanzielle Risiko dieses Abenteuers minderte Sponsor Microsoft.

„Im Herbst gehe ich wieder hundertprozentig zur Schule, auch wenn mir der Unterricht mit meinen Eltern mehr bringt“, erklärt Carlsen, obwohl die Schule den Klassenprimus kaum fordert und bis auf das Fach Sport langweilt. „Ich verstehe die Probleme von Lehrern mit 30 Schülern. Trotzdem ist für mich die ständige Warterei frustrierend und wenig motivierend.“ Mit fünf habe Magnus, berichtet Vater Henrik, alle 430 Bezirke Norwegens samt deren Größe sowie Einwohnerzahl auswendig gewusst. Heute verschlingt er Schachbücher ebenso wie andere. Am meisten freut sich der junge Großmeister nach seinen Reisen auf die Fußball-Duelle mit den Freunden in Lommedalen. Und wie sie liest der „Mozart des Schachs“ am liebsten Donald-Duck-Taschenbücher.