Gemeinsam sind sie schwach

Brüssel bevorzugt weiterhin eine gemeinsame Aufnahme der Westbalkanstaaten. Doch ihr Entwicklungsniveau ist sehr unterschiedlich

von ERICH RATHFELDER

„Die Zukunft der Balkanstaaten liegt in der Europäischen Union.“ So heißt es in der Abschlusserklärung des EU-Westbalkangipfels, der am Samstag im Anschluss an den EU-Gipfel im griechischen Porto Karras stattfand. Ein konkretes Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen wurde Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien-Montenegro, Mazedonien und Albanien allerdings nicht genannt. Zuerst müssten der Demokratisierungsprozess abgeschlossen und die wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt sein. Als Hauptprobleme werden organisierte Kriminalität und Korruption genannt.

Die EU setzt damit ihre Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ fort, die bereits während der Verhandlungen zu Beendigung des Bosnienkrieges 1995 entstand. Damals schon wollten die EU und die USA die moderaten Kräfte in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens unterstützen. Und tatsächlich hat die Aussicht auf eine Integration in die EU zusammen mit den militärischen Maßnahmen der Nato zur Befriedung des Balkans beigetragen. Albanien wurde in die Westbalkanstrategie eingebunden, um nicht den Anschein zu erwecken, ein neues Jugoslawien erstehen zu lassen.

Der Versuch Brüssels, für alle Staaten des Westbalkans eine gemeinsame Politik zu entwickeln, kann natürlich immer noch fehlschlagen. Denn im Hintergrund gibt es Konflikte und Eifersüchteleien zwischen den EU-Kandidaten. Zagreb hat bereits im Frühjahr einen Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt und beeilt sich, die so genannte „Roadmap“, also die Beitrittsbedingungen zur EU, umzusetzen. Auch die neue Regierung in Serbien bemüht sich, Anschluss zu finden. Selbst Mazedonien macht große Anstrengungen, mitzuhalten. Zurückbleiben jene Staaten und Regionen, die mit den Folgen des Krieges in besonderer Weise zu kämpfen haben. Dazu gehören Bosnien und Herzegowina, das nach dem Friedensabkommen in Dayton in die Bosniakisch-Kroatische Föderation und die Republika Srpska geteilt ist und einen komplizierten Staatsaufbau besitzt. Regionale und nationalistische Kräfte können in diesem Land die angepeilten Reformen verhindern oder verzögern. Bosnien, so befürchtet die Öffentlichkeit in Sarajevo, verliert mehr und mehr den Anschluss an die Entwicklung in Kroatien und Serbien.

Auch das von der UNO verwaltete Kosovo, dessen Status immer noch nicht geklärt ist, kann nicht mithalten. Je länger die Entscheidung hinausgeschoben wird, ob die ehemalige serbische Provinz unabhängig wird oder wieder von Belgrad regiert wird, kann dort in Hinblick auf die Integration in die EU nur wenig angepackt werden. Beim EU-Gipfel gab es hier jedoch einen Fortschritt. So sagte der serbische Präsident Svetozar Marović, dass man Ende Juli Gespräche mit der Führung der Kosovo-Albaner aufnehmen wolle. Dabei soll es um praktische Fragen wie Verkehr und Energie, aber auch um die Rückkehr von Flüchtlingen gehen.

Trotz des unterschiedlichen Entwicklungsstands der Balkanstaaten gibt es in der EU starke Kräfte, die sich weiterhin für eine „Package-Lösung“ aussprechen. Kroatien habe auch Verantwortung für die Entwicklung der anderen Länder, heißt es aus diplomatischen Kreisen in Sarajevo. Eine Zollunion zwischen den Ländern des Westbalkans wäre dabei hilfreich. Mit dieser Konstruktion müssten die fortgeschrittenen Länder die verfehlte internationale Politik, die für den Staatsaufbau in Bosnien und Herzegowina sowie für die ungelöste Statusfrage im Kosovo verantwortlich ist, ausbaden, kontern die Kritiker. Und wer könnte die Entwicklung im zerrütteten Albanien abwarten?

Wie in der EU üblich, ist dieser Konflikt auch in Tessaloniki nicht entschieden worden. Ein Datum für den Beginn von Verhandlungen will derzeit niemand auch nur andeuten. Doch jenseits dieses Fernziels ist vieles in Bewegung gekommen. Auf einem „Westbalkan-Forum“ sollen die Regierungen kontinuierlich miteinander sprechen, es sollen gemeinsame Probleme benannt und gelöst werden. Stärkere Kooperation wird im technischen Bereich, bei der Infrastruktur, dem Umweltschutz, dem Abbau von Zöllen untereinander und gegenüber den Staaten der Union angestrebt. Die EU legt zudem ein Programm zur Förderung von Gemeinden vor. Für diese Aufgaben sollen 200 Millionen Euro für die Jahre 2004 bis 2006 zur Verfügung gestellt werden. Ingesamt beläuft sich die Finanzhilfe Brüssels zwischen 2000 und 2006 auf 4,65 Milliarden Euro. Weitere Hilfen können die Einzelstaaten in bilateralen Abkommen mit der EU erhalten. Erleichtert wird auch die Kreditaufnahme.

Ob dieses Zuckerbrot jedoch ausreicht, den Hunger der Region zu stillen, bleibt fraglich. Denn bisher hat der Abbau von Zöllen gegenüber der EU in den betroffenen Ländern lediglich dazu geführt, dass Waren aus der Union die Märkte überschwemmen, aufgrund der „EU-Standards“ jedoch der eigene Export in die EU erschwert wird.

Weiterhin sperrt sich Brüssel dagegen, visafreien Verkehr zu erlauben, lediglich mit einem kroatischen Pass können Menschen aus der Region frei in die EU einreisen. Zugleich weitet die EU die Kontrolle über die Region mit polizeilichen und militärischen Mitteln aus. EU-Polizei hat in Bosnien die UN-Polizei abgelöst, in Mazedonien wurde eine EU-Friedenstruppe aufgebaut, die nach dem Willen von Brüssel auch in Bosnien die Funktionen der von der Nato dominierten SFOR übernehmen soll.

Doch dabei stößt sie auf Widerstand. Die USA denken nämlich nicht mehr daran, sich, wie noch vor Jahresfrist angekündigt, militärisch aus der Region zurückzuziehen. US-Truppen werden in Bosnien und im Kosovo bleiben. Und Washington entwickelt diplomatische Aktivitäten, um den Einfluss der EU zu begrenzen. So übten die USA starken Druck auf die Balkanstaaten beim Streit um den von der Union gestützten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag aus. Sie zwangen Bosnien und Herzegowina erst am letzten Dienstag, eine Erklärung zu ratifizieren, die US-Staatsangehörige von der Verfolgung durch dieses Tribunal ausnimmt. Albanien unterschrieb willfährig, Serbien zögert noch. Dass sich Kroatien weigerte, zeigt den Grad der Annäherung jedes einzelnen Landes des Westbalkans an die Europäische Union auf.