Befreiungsschläge erlaubt

Zum Auftakt der Hamburger Ballett-Tage: John Neumeier liefert mit seiner Inszenierung „Préludes CV“ – zu Musik von Lera Auerbach – eine Liebeserklärung an seine Tänzer

von MARGA WOLFF

John Neumeier ist den Weg ein Stück weiter gegangen, den er in seiner Winterreise bereits beschritten hat. Wechselhafter und weit weniger illustrativ ist dieser neuerliche Trip ausgefallen. Es gibt zunächst nichts, woran man sich festhalten könnte. Einzig Lera Auerbachs schillernde Musik, die an diesem Abend in der Staatsoper zum Auftakt der 29. Hamburger Ballett-Tage zusammen mit Neumeiers Choreographie Préludes CV uraufgeführt wurde. Doch Halt verspricht auch die Compagnie des Hamburg Balletts mit ihren ausdrucksvollen und technisch versierten Solisten, auf deren Inspiration sich Neumeier voll und ganz verlassen hat.

Hätte Hamburgs Ballettchef das „Choreographische Skizzenbuch in zwei Teilen“, so der Untertitel, nicht einer gewissen Catherine Kilser Siebert gewidmet, man würde keinen Moment daran zweifeln, dass es ausschließlich eine Liebeserklärung an seine Tänzer darstellt. Und für die diese ihrem Choreographen im Gegenzug Respekt für sein Kunstverständnis zollen. Manche Soli und Duette wirken da wie ein Befreiungsschlag, der ganz neue Seiten im jeweiligen Interpreten aufscheinen lässt. Neumeiers Stil haben sie voll und ganz internalisiert und wissen doch darüber hinaus in seinem Sinne zu experimentieren.

Typisierungen hat der Choreograph ihnen an die Hand gegeben. Sunnyboy Carsten Jung erscheint im Hawai-Hemd, Elizabeth Loscavio als schnittige Lady im lila Kostüm. Später wird sie es gegen ein fließendes Nachtgewand tauschen. Neumeier selbst zeichnet für Bühne und Kostüm verantwortlich. Silvia Azzoni eröffnet den Reigen. Sie wird ihn auch beschließen. In dieser wundervollen, mit jedem Stück wachsenden Tänzerin findet die Choreographie ihre stärkste Interpretin und eine stilsicher gegen jegliche Klischees gewappnete Figur. Dem jungen Japaner Yukichi Hattori hat Neumeier wieder eine transzendierende Funktion überantwortet. Als einziger trägt sein Part nicht den Vornamen, sondern bezeichnet mit „Im‘r da“ so etwas wie eine stetig treibende Kraft. So infiziert der Ausnahmetänzer mit seinem Feuer eine eingangs lahme, mehr um ihr modisches Outfit besorgte Streetgang mit seinen explosiven Bodenrollen und waghalsigen Tiefflügen.

Der erste Teil Préludes CV dient der Vorstellung und Etablierung der Charaktere, die sich im zweiten Teil aufblättern, vervielfältigen und somit auf andere Tänzer übertragen. Lera Auerbachs 24 Préludes für Cello und Klavier geben dem Auftakt einen schroffen, fast monochromen Anstrich. Streng und ein wenig spröde schlägt die Komponistin selbst das Klavier an. Ihre 24 Préludes für Violine und Klavier springen dagegen leichtfüßig und ungemein tänzerisch kreuz und quer durch die Musikgeschichte. In der Pianistin Angela Yoffe und in dem Violinisten Vadim Gluzman haben sie sensible, virtuos mit allen Spielarten vertraute Interpreten gefunden.

Choreographisch überzeugen die hier ausgestreuten Lebenssplitter am deutlichsten in den zahlreichen Pas de Deux. Der nüchterne, relativ gradlinige Anfang entfaltet sich zu einem polyphon verschlungenen, fantasievollen Tableau. Manche Fäden bleiben lose hängen, manche werden von anderen Tänzern weitergesponnen, finden den Weg zurück zum Anfang. Getragen von einer spielerischen Leichtigkeit fühlt sich der Zuschauer nicht in die Irre geführt, wenn Elizabeth nun vom energischen Temperament einer Joëlle Boulogne aufgenommen wird und dazu durch Susanne Menk, seit 24 Jahren Choreologin des Hamburg Balletts, einen Ausblick auf das Alter erhält. Ein starkes Doppelspiel treiben Niurka Moredo und Heather Jurgensen im schwarzen Schwanentutu. Und Otto Bubenícek tanzt im Hawai-Hemd zusammen mit Laura Cazzaniga sein Alter Ego Carsten lässig an die Wand.

weitere Vorstellungen: heute, 19.30 Uhr + Do, 3.7., 19.30 Uhr, Hamburger Staatsoper