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: HELMUT HÖGE über Lebensplanung

Verglücklichung und Verelendung

Endlich meldete sich die feministische Philosophin Käthe Trettin mal wieder zu Wort (in der FR). Es ging ihr um die „agatha“ – die materiellen und immateriellen Güter – für ein „objektiv gelingendes Leben“ (eudaimonia). In der Berlinredaktion hatten wir darüber zuvor ebenfalls einmal diskutiert, ein Jungredakteur meinte abschließend: „Höge, du bist doch auch ein Gescheiterter!“ Obwohl ich kürzlich in der „Show des Scheiterns“ als „Experte“ aufgetreten war, war ich derart verblüfft, dass ich ins Grübeln geriet: Wäre ich etwa als Zeit-, Spiegel- oder FAZ-Mitarbeiter seiner Meinung nach nicht gescheitert? Oder dachte er an unsere weitgespannten revolutionären Ziele in der Studentenbewegung – und das, was davon an täglichen taz-Artikeln übriggeblieben ist?

Derzeit streite ich darüber gerade mit meiner Freundin Cornelia: Sie hat ihre kleine Erbschaft angelegt, ist bei der Künstlersozialkasse versichert und lebt exakt am Existenzminimum, so dass sie dem Staat nichts abgeben muss. Grundlage für ihr steuerfreies Existenzminimum ist ein Verfassungsgerichtsurteil von 1993, das die Regierung zwingt, alle zwei Jahre das Existenzminimum neu festzulegen. Cornelia beschäftigt sich am liebsten mit Prozessen – zum Beispiel zur Herabsetzung ihrer Miete oder gegen andere Unverschämtheiten. Dabei hat sie großes juristisches Wissen gesammelt, so dass sie gelegentlich für Anwälte arbeitet, wenn das Geld knapp wird. Meist aber hockt sie in ihrer großen Wohnung, kocht, liest oder denkt nach. An Kampfeslust kommt ihr kaum einer gleich – allerdings bezieht sich das vor allem auf dünne Schriftsätze, um ihre und ihres Mitbewohners Interessen zu wahren. Aus dieser Position, die der von Platon und Aristoteles insofern ähnelt, als sie sich auf das individuelle Glück und wie man es erreicht bezieht, kritisiert sie mich immer wieder als haltlosen Graphomanen – im Gegensatz etwa zum arbeitslosen Dramatiker Jochen Berg, der es auf höchstens drei Vierzeiler im Jahr bringt und ständig vom werklosen Lebensgenuss versucht wird.

Nun gut, ich schreibe viel, um zu leben, aber eigentlich interessiert mich eine individuelle Perspektive nicht – deswegen kann ich mit „gescheitert sein“ und „gelingendem Leben“ nur bei anderen etwas anfangen: indem ich deren Wollen an ihren Reichtumsweiten messe. Mein eigenes Streben zielt jedoch eher auf – nichts. Die „Problematik des guten Lebens spielt gegenwärtig in der politischen Philosophie eine zentrale Rolle“, schreibt Käthe Trettin. Wen wunderts?! Bei mir ist das jedoch bloß eine Frage der Balance: Wenn Sozialneid hochkommt, orientiere ich mich an Neuköllner Pennern, und wenn ich mich als zu privilegiert und sozialschmarotzerisch empfinde, begebe ich mich in die Nähe junger Bourgeois in ihren Clubs oder Vereinen – übrigens ein uralter chinesischer Trick, um seinen Seelenfrieden zu finden.

Trettin meint abschließend: „Aus feministischer Sicht ist die reine Egalität immer noch ein äußerst wichtiger normativer Wert.“ Ich kann daneben jedoch auch der „unternehmerischen Initiative“ immer mehr abgewinnen, wohl wissend, dass sie in summa geradewegs die Asozialität verstärkt – und dass das mit mir nichts zu tun hat. Es geht nur darum, die klassenkampflose Zeit mit irgendeinem Individualquatsch zu überbrücken, ohne zu verbittern. Das kann alles Mögliche sein, deswegen werfe ich Cornelia auch vor, aus der Not eine Tugend zu machen.