die blume am wege der zeit zur besinnung von TOM WOLF
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Der weite Weg ins Hessische, extra für diesen Abendtermin, kostete mich Überwindung. Freunde, die ich noch kurz vorher besuchte, wollten ein Zittern und Schlottern an mir bemerkt haben, das sie nur „psychisch“ nennen konnten. Kurz vor dem Dunkelwerden stand ich vor dem schmucken Landgasthof in der kleinen Taunusstadt, in dem es sich ereignen sollte: das Zwanzigjährige. Mir klapperten die Zähne. Aber es gab kein Zurück mehr.

Beim Eintreten traf mich der Schalldruck wie ein Keulenschlag, unartikulierte Rufe erklangen, als irgendwer meiner ansichtig wurde, oder galten sie den nach mir Gekommenen? Das Lokal platzte aus allen Nähten. Wohl an die hundert Menschen füllten schon dicht gequetscht den schmalen Raum und brüllten sich an, denn anders war Kommunikation nach so vielen Jahren nicht möglich: Wir alle waren alt und schwerhörig geworden.

Bierkrüge dienten als Rettungsbojen und Brustwehr. Nachdrängende, neu eingetroffene Jahrgangsgenossen hinderten mich daran, umzukehren, und schoben mich immer weiter. Blickkontakte mit den Umstehenden ergaben sich zwangsläufig: Gequält schrien wir uns Erkennungsfloskeln in die irritierten Gehörgänge. Ein langjähriger Mitschüler gebot über problematische Kinder und arbeitete für einen Paketdienst, wie ich im Vorbeigedrücktwerden mitbekam. Doch nur wenige einstige Vertraute waren sich und ihrem Erscheinungsbild treu geblieben.

Von Versicherungsmathematikern, Landschaftsgärtnern, Pfarrer- und Lehrerinnen, Architekten und Biologinnen umgeben, begann ich einzusehen, dass zwanzig Jahre wirklichen Lebens aus den meisten ephemeren Lichtwesen meiner Erinnerung seltsame Zombies gemacht hatten. Mich freilich eingeschlossen.

Das hinderte die Gesamtheit der Versammelten jedoch nicht daran, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Atmosphäre einer Party der späten Siebzigerjahre heraufzubeschwören. Aus dem Hintergrund des Raums drang das Geräusch zersplitternden Glases. Durch ein geöffnetes Kneipenfenster stiegen schwankende Gestalten ein und aus. Die Wirtsleute resignierten und wurden bis zur unbarmherzigen Abrechnung nicht mehr gesehen.

Wie trockene Hülsenfrüchte, die man in Wasser wirft, begannen die Gesichter und Namen langsam in meinem Kopf aufzuquellen. Die eine oder andere Erinnerungssequenz konnte wieder reaktiviert werden. Doch Erinnerung ist ein diskriminierendes Phänomen. Viele, die man einst kannte und schätzte, hatten einen nie wahrgenommen oder längst ausgelöscht; bei anderen musste man selbst die Achseln zucken.

Die Siebziger, Achtziger und Neunziger sind dahin. Keiner von uns Methusalems kann mehr die ganze Nacht durchbrüllen, ohne damit seinen Verfall zu beschleunigen. Es wird Zeit, sich an den kleinen Dingen zu freuen, an der Blume am Weg etwa oder der Kastanie, die das Eichhorn im Blumenkasten vergraben und vergessen hat.

Die Rückfahrt verlief heiser, taub und beschaulich.