: Geräderter Wagner
Theatermacher Christoph Schlingensief startete unter Getöse seine „Wagner Rallye“ durchs Ruhrgebiet. Morgen endet die musikalische Schnitzeljagd im Festspielhaus Recklinghausen
VON BORIS R. ROSENKRANZ
Kurz vor neun muss der Startschuss fallen, stresst der ARD-Mann – nicht später, schließlich habe er das schon „angeteasert“. Er schwurbelt weiter, während dem wildlederbraunen WDR-Mann partout nicht unter die Löckchen passen will, dass die beiden Ziegen vor ihm die Maskottchen sind und wirklich Parsival und Lohengrin heißen. Ist ja auch unfassbar. Fünf vor neun also? Okay?
Donnerstag, sehr früh. Vor dem Recklinghäuser Festspielhaus hastet eine wilde, in Rennmontur gehüllte Meute durcheinander. Christoph Schlingensief ist da, kaum zu verwechseln in einem Overall von wundem Rot, aber mit dunkel getönter Brille. Und wo der Theatermacher ist, brummt auch die Medienmaschine, die Schlingensief wiederum fabelhaft für sich einzusetzen weiß. Kamera an. Schlingensief befiehlt ins Megaphon, wirkt hektisch, nahezu konfus. Kamera aus. Er kühlt ab, trinkt, isst, hat Krümel im Bart. Die Fotoapparate schnattern dennoch weiter. Schlingensief ruft, die Medien fressen – so herrlich einfach ist das Spiel.
Ein Spiel, das sich derzeit um Richard Wagner dreht, diesen urdeutschen Komponisten, dessen Parsifal-Oper Schlingensief im Sommer bei den Bayreuther Festspielen inszenieren wird. Seine „Wagner Rallye“ für die Ruhrfestspiele, die am Donnerstag ins Ruhrgebiet startete, ist da nur ein Vorspiel. Zehn zweiköpfige Rallye-Teams hat Schlingensief aus über 200 Bewerbern ausgewählt und sich damit förmlich verzwanzigfacht. Die Statisten jagen durchs Revier, tragen Wagners Werke via Lautsprecher in die Region, lösen Aufgaben und benehmen sich vor dem großen Abschluss morgen Abend auf der Festspielbühne so, wie es sonst der Oberhausener zu tun pflegt: stören, erregen, einfach mal reinplatzen.
Natürlich geht es Schlingensief vorrangig um Kunst, wie er stets beteuern muss: „Ich bin wirklich Wagner-Fan“, spricht er, die Ralley-Autos im Rücken, von deren Dächern Fragmente jenes Wagner-Medleys fallen, das die Neue Philharmonie Westfalen für das Projekt eingespielt hat – hier Streicher, da Bläser, dort Schläger. Erst wenn die Autos zusammen fahren, erklingt das Werk in Gänze. Der Generalmusikdirektor der Philharmonie, Johannes Wildner, kriegt sich vor dem Start überhaupt nicht mehr ein: „Würde der Wogna des hia seh‘n“, wienert er, „dem würd‘ glott eina obgeh‘n!“ Dann lacht er massig und sagt: „Die Idee ist einfach köstlich!“ Ein Happening – des g‘föjt dem geborenen Österreicher.
Raus mit dem Wagner, raus aus dem Opernhaus, dieser miefenden Zwangsjacke, in der die hehre Kunst ihr Dasein fristet. Das will Schlingensief. Und wohin damit? Natürlich auf die Straße, dorthin, wo das Volk ist, das der Regisseur mit Wagner „infizieren“ will. Ein Konzept, wie es besser nicht passen könnte im Revier, wo die Menschen zwar zunächst verstört dreinblicken, dann aber doch näher kommen. Mithin ein Konzept, dass sich ebenso trefflich einfügt in Frank Castorfs Gedanken zur Schieflage der deutschen Kulturlandschaft. Der neue Leiter der Ruhrfestspiele spricht gerne von „Ghettoisierung“, wenn es darum geht, aus welchen Schichten sich das Theaterpublikum speist. Komplize Schlingensief sprengt die Ghettogrenze einfach weg. Dass damit zwangsläufig eine Trivialisierung Wagners einhergeht, machen ihm nun allzu adrette Bürger zum Vorwurf. Die Spießerhülle wird jenen Herrschaften ewig anhaften.
Kurz vor neun also. Die Fahrer lassen die Motoren jaulen, sichten das „Gebetbuch“ mit den Aufgaben für die erste Etappe. Im Rallye-Wagen von Gudrun F. Widlok und Johannes Ebert erklärt die Fahrerin ihrem Sozius gerade, dass dies nicht das Rheinland, sondern das Ruhrgebiet ist. Widlok und Ebert nutzen die Chance, die Region kennen zu lernen, den Pott von innen zu erleben. In Bochum müssen sie Schweizer Schokolade kaufen, einen Eiskratzer und Hundefutter, um danach alles Matthias Hartmann, dem Intendanten des dortigen Schauspielhauses, zu hinterlegen. Die wenigsten werden die Anspielung auf Hartmanns baldigen Abgang an die Zürcher Bühne begriffen haben. Das ist aber auch egal.
Wie man der Rallye die Projektionsfläche nimmt, zeigte die Stadt Bochum in geradezu weltverschlossener Manier. Anstatt dem Spektakel Einzug in die belebte City zu gewähren, versteckte sie es auf dem abseitigen Buddenbergplatz. Ein Autokorso in der Innenstadt, spießerten die Beamten, das sei zu gefährlich. Schlingensief kratzte das nicht weiter. Seine Weltwut ist schon groß genug. Und die Menschen wurden ja schließlich doch infiziert. Oder waren es schon, wie der Herr bei den Recklinghäuser Stadtwerken. Er war ans Auto getreten, hatte seinen Kopf durchs Fenster gesteckt und gegrinst: „Wagner? Ist ja wunderbar!“