„Wer bindet sich denn freiwillig die Hände?“

Nach dem Bankenskandal ist vor dem Bankenskandal: Seit letztem Sommer mühen sich die Grünen um einen Vorstoß in der Debatte um einen Ehrenkodex für öffentliche Unternehmen, den Public Corporate Governance Codex. Doch im Abgeordnetenhaus kocht jeder sein eigenes Ethiksüppchen

INTERVIEW VON ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Herr Esser, passt das für Sie in einen Satz: Management, Macht und Moral?

Jochen Esser: Es ist nicht einfach, das eine im anderen zu verankern. Dafür braucht man in Rechtsstaaten klare rechtliche Regelungen.

Genau deshalb schlagen die Berliner Grünen einen Ehrenkodex vor. Was ist das?

Es gibt mittlerweile Empfehlungen für ein verantwortungsbewusstes, den Eigentümern verpflichtetes Management und die dazu notwendige Transparenz im Unternehmen, was sich „German Corporate Governance Codex“ nennt. Wir haben vorgeschlagen, diese Regelungen, die das Bundesjustizministerium zusammengefasst hat, in rechtliche Formen zu gießen und verpflichtend unseren Landesunternehmen vorzuschreiben.

Wir hatten in Berlin für die landeseigenen Unternehmen auch vor dem Bankendesaster diverse Kontrollebenen. Offensichtlich waren diese wirkungslos. Was kann so ein Kodex besser machen?

Normalerweise hat der Senat als Exekutive die Kontrollfunktion auszuüben – im Namen der Eigentümer. Und das sind die Berliner BürgerInnen, quasi die Aktionäre. Der Senat hat das über die Jahre aber nicht getan, egal in welcher politischen Konstellation auch immer.

Dennoch gibt es Kontrollinstanzen. Wäre es nicht besser, diese aufzuwerten, als neue Regelwerke zu verfassen?

Der Rechnungshof zum Beispiel wird ja über weite Strecken durch Kompetenzdebatten außen vor gelassen. Fakt ist auch, dass unsere zuständige Finanzverwaltung nicht dazu in der Lage war, die notwendige Kontrolle auszuüben. Deshalb muss man an ebendieser Stelle etwas verändern.

Wie genau sieht Ihr Vorschlag aus?

Im Wesentlichen sind das Regelungen für die Unternehmen selbst, die Transparenz ermöglichen. Wir denken zusätzlich daran, ein externes Beteiligungsmanagement aufzubauen, das dann unmittelbar dem Senat und dem Parlament verantwortlich ist.

Was wäre die neue Qualität der Kontrolle?

Der Grundgedanke ist, dass die BürgerInnen und ihre Vertreter, die ParlamentarierInnen, nicht schlechter gestellt sein sollen als die Aktionäre einer Aktiengesellschaft. Für ein öffentliches Unternehmen gelten die neuen, schärferen Gesetze nicht, weil es ja meistens keine Aktiengesellschaften sind. Man müsste also sicherstellen, dass diese Gesetze auch dort Anwendung finden, egal ob es sich um eine GmbH oder eine andere Rechtsform handelt. Das Wichtigste ist, dass es ein funktionierendes Risikomanagementsystem gibt – etwas, was es bei der Bankgesellschaft eben nicht gab.

Sie wollen vor allem ein Frühwarnsystem für Risiken?

Ja, es muss regelmäßig an die Eigentümer berichtet werden. Und nicht erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Das müsste auch Folgen für die Wirtschaftsprüfer haben, die künftig nicht nur formell alles für korrekt erachten dürfen. Sie müssten auch begutachten, ob das Frühwarnsystem funktioniert und der Lagebericht zutreffend ist, also ein inhaltliches Prüfungsrecht erhalten. Das wäre völlig neu.

Und was wäre mit den exorbitant bezahlten Vorständen?

Die müsste man in ihren Arbeitsverträgen auf diese Regelungen verpflichten, damit es bei Nichtbeachtung auch Sanktionsmöglichkeiten gibt. Das, was wir bei der Bank, bei den Wasserbetrieben, praktisch überall erlebt haben, hätte dann eben Konsequenzen für die Verantwortlichen.

Hätte es in den 90er-Jahren einen Public Corporate Governance Codex gegeben, wäre uns dann der Bankenskandal erspart geblieben?

Das weiß man nicht. Aber es hätte ein mehrstufiges Kontrollsystem unter Beteiligung des Parlaments gegeben. Außerdem könnte man die Handelnden, die wir jetzt kaum verurteilt bekommen, eher zur Verantwortung ziehen. Aber wo die Energie besonders kriminellen Charakter annimmt, hilft bekanntlich kein Gesetz zur Vorbeugung.

Kann man denn mit solchen Kodizes besser an die Verantwortlichkeit und gesellschaftliche Ethik der Manager appellieren?

Das dürfte mittelfristig auch Auswirkung auf die Denkweise der Handelnden haben. Wir fordern ja für die Berliner Landesbetriebe nichts anderes als das, was momentan in der weltweiten Diskussion state of the art ist, insbesondere nach den Bilanzfälschungen in den USA.

Sehen Sie da Chancen, dass es überhaupt zu einem besseren Verantwortungsgefühl bei den Handelnden kommt?

Meinen Erfahrungen entspricht das leider nicht. Öffentliches Eigentum gilt zu schnell als herrenloses Eigentum, das dann auf allen Ebenen auch entsprechend behandelt wird. Weil die Handelnden sich immer darauf verlassen, dass die Allgemeinheit ihr Versagen schon ausbügelt.

Gibt es eigentlich schon Erfahrung mit dem Public Corporate Governance Codex?

Nein. Es gibt bei einigen großen Aktiengesellschaften Teilbereiche, aber auch für die ist das nicht durchgängig verpflichtend. Zum Beispiel beim hoch symbolträchtigen Thema der individuellen Offenlegung von Vorstandsgehältern. Das macht kaum jemand. Angesichts der Erfahrungen, die wir gemacht haben, sollten wir dieses Neuland aber schnellstens betreten.

Eigentlich müssten jetzt alle Verantwortlichen sagen: Das ist doch prima, lasst uns das alles sofort einführen. Das passiert aber nicht. Woran liegt’s?

Interessante Frage. Weder die Unternehmen noch der Senat zeigen großes Interesse an diesen unangenehmen Neuerungen und Offenlegungen. Finanzsenator Sarrazin, der ohnehin etwas sehr Selbstherrliches hat, widersetzt sich jedem Beteiligungsmanagement wie ein Sonnenkönig. Er sagt einfach: Wo ich bin, ist Ordnung.

Wird deshalb im alten Stil weitergemacht?

Ich finde es traurig, dass bei der gerade geplanten Ausgründung der IBB aus der Bankgesellschaft der rot-rote Senat das erste „eigene“ öffentliche Unternehmen wieder nicht mit besseren Grundlagen ausstattet. Da wird die Summe der gemachten Erfahrungen gar nicht mit eingearbeitet.

Ihrer Ansicht nach hat der rot-rote Senat also nicht viel dazugelernt?

Im Jahr 2004 muss eine solche Unternehmensgründung anders aussehen. Dahinter steht bei Teilen des Senats ganz sicher die Haltung: Wir werden uns doch nicht freiwillig selbst die Hände binden.