Das Dreirad für Erwachsene

Man entwickelte ihn in der Weltwirtschaftskrise, später wurde er nachhaltiges Symbol des deutschen „Wirtschaftswunders“: Das Hamburger Museum der Arbeit hat dem „Tempo“-Dreirad-Hersteller eine Ausstellung gewidmet und eruiert die Rolle, die die Firma während des „Dritten Reichs“ gespielt hat

VON PETRA SCHELLEN

Nein, die sehen nicht nur so aus: Diese markanten Kleinlaster kippten tatsächlich immer um. Was ja auch kein Wunder ist, hatten sie doch nur drei Räder, die Wagen der Hamburger Firma Tempo, die sich als Symbol des bundesdeutschen Wirtschaftswunders ins kollektive Gedächtnis brannten.

Entstanden waren die bizarren Fahrzeuge die seit 1928 von der Hamburger Firma Vidal & Sohn gebaut wurden, aus Lastenmotorrädern, bei denen der Fahrer hinter der Ladefläche saß. Das war auch bei den ersten Tempo-Wagen so. Erst 1932 wanderte die Ladefläche nach hinten. Motor und Führerhaus ruhten jetzt auf der vorderen Radachse und machten das Lenken zu einem Abenteuer. Doch das Modell wurde ein Erfolg, die Firma Marktführer für Dreiräder.

„Tempo – schafft alles“ lautete dann auch der selbstbewusste Slogan der Firma, der das Hamburger Museum der Arbeit derzeit eine Ausstellung widmet. Kein Zufall vielleicht, dass das kipplige Wägelchen ausgerechnet in Krisenzeiten erfolgreich war: Erfunden wurde der Kleinlaster während der Weltwirtschaftskrise; damals beförderte er Waren von den Bahnhöfen in die Innenstädte, die bis dato in Säcken oder auf Schubkarren transportiert worden waren. Das Revival kam, folgerichtig, während der Nachkriegsjahre, in denen abermals Fahrzeuge, Energie und Geld knapp waren. Adressaten waren Kleinhändler und Handwerksbetriebe, das Konzept war schlau: Hinter einem uniformen Führerhaus wurden individuelle Ladeflächen und Aufbauten montiert.

Dass aber ein statisch so bedenkliches Dreirad überhaupt so erfolgreich wurde, verdankte es einem Gesetz von 1927: Fahrzeuge mit weniger als vier Rädern und einem Hubraum unter 220 ccm durften demnach führerschein- und steuerfrei genutzt werden.

Eine ideale Nische für die Firma „Vidal & Sohn“, die eigentlich eine Autowerkstatt war und auch später nie Motoren produzierte. Dass ihr Erfolg parallel zum Aufstieg der Nationalsozialisten verlief, war zunächst Zufall. Auch dass die Produktionszahlen ab 1935 steil nach oben gingen, findet Technikhistoriker Jörgen Bönig, der die Hamburger Schau konzipierte, nicht verdächtig. Befremdet war er allerdings, als er unter den 40.000 Fotos des Firmenarchivs wenige aus der Zeit des Nationalsozialismus fand – und kein einziges mit Hakenkreuz drauf. „Das konnte nicht sein“, sagt Bönig.

War es auch nicht, war der Werksfotograf doch verpflichtet, jedes einzelne neue Modell abzulichten und zu archivieren. Doch das Material aus der Nazi-Zeit hatte die Firmenleitung nach 1945 vernichtet, um als unbelastet zu gelten. Andernfalls hätten die britischen Besatzungsbehörden die Wiederaufnahme der Produktion nicht genehmigt.

Auch Unterlagen über kriegstaugliche Wagen liefert das Archiv nicht. Dabei gab es auch die: Otto Daus, Tempo-Konstrukteur und überzeugter Nazi, entwarf eigens den kriegstauglichen Geländewagen G 1200. Der wurde allerdings bloß repräsentatives „Spielzeug der Herrschenden“, die damit über Hügel und Wälle fuhren und einander dabei fotografierten.

Eigentlich hatte Daus das Modell aber für den Kriegseinsatz konzipiert. Dazu kam es zwar nicht, doch der Zollgrenzschutz nutzte den Wagen, um die Ostgrenze zu „sichern“, sprich: Menschen abzufangen, die Deutschland verlassen wollten. Ob von den Wagen aus geschossen wurde, ist nicht bekannt. Rein zivilen Zwecken dienten die Fahrzeuge jedoch nicht. „Die waren nicht so harmlos, wie sie aussahen“, sagt Bönig.

Trotzdem konnte die Firma Vidal in der Rüstungsproduktion nie Fuß fassen, obwohl sie entsprechende Konstruktionsvorschläge unterbreitete. „Einerseits fehlte den Vidals wohl der Kontakt zu den Kreisen, die schon während der Weimarer Republik die Wiederaufrüstung vorbereiteten“, sagt Bönig. Andererseits hatte die Firma schlicht nicht die Produktionskapazitäten für Großaufträge. Lediglich im Rahmen des Schell-Plans von 1938, der vorsah, dass es von jedem Fahrzeug nur noch ein Modell geben solle, bekam Vidal den Zuschlag für dreirädrige Kleinlaster.

Allerdings produzierte Vidal – und auch das wurde nach 1945 verschleiert – Raketenlafetten: Untergestelle, die V2-Raketen zu ihren Abschussorten transportierten. Dies aber wohl nur in geringer Zahl, „denn anders als beim Geschütz hat nicht jede Rakete eine eigenes Untergestell“, sagt Bönig. „Kriegsbegünstigend“ seien diese Lafetten aber durchaus gewesen.

Warum die Nazis den Vidals keine großen Rüstungsaufträge gaben, bleibt unklar. Ein Foto aus Vidals privatem Album gibt hier Aufschluss. „Hermann Göring ist mit Tempo böse“ hat dort jemand notiert. „Auf dem Bild schaut Göring missmutig auf den Geländewagen“, berichtet Bönig. „Vermutlich hatten die Nazi-Granden erwartet, Geld und Geländewagen für ihre privaten Zwecke geschenkt zu bekommen. Dann hätten sie Vidal vielleicht größere Aufträge zugeschanzt.“

Für Bestechung aber fehlten der Firma Geld und Kapazitäten. Eine echte Fließbandstrecke mit kurzen Takten hatte Vidal zum Beispiel nie. Man kann das unprofessionell nennen, es war aber dem Umstand geschuldet, dass fast jeder Aufbau auf Kundenwunsch individuell gefertigt wurde. „Da brauchte man einfach kompetente Mitarbeiter, die mit dachten“, sagt Bönig.

Im Gegenzug habe sich Vidal vor seine Leute gestellt, Betriebsausflüge und Feiern veranstaltet. „Und wenn er im Nachhinein sagt, er habe seine Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs gut behandelt, könnte das durchaus stimmen. Man hat sie vermutlich integriert“, vermutet Bönig.

Das sei aber kein expliziter Widerstand der Firmenleitung gegen die Nazis gewesen, sondern es ergab sich eben. So, wie sich auch die relative Abstinenz bei der Kriegsproduktion ergeben hatte.

All dies macht ein Urteil über die Rolle der Firma Vidal während des „Dritten Reichs“ schwer. Aber er habe auch nicht zu moralisieren, sagt Bönig. „Ich sehe die Fakten und die erlauben eben keine eindimensionale Deutung.“

Die Ausstellung ist bis 12. 4. im Hamburger Museum der Arbeit zu sehen