Schily verliert das Kommando

Koalition einig: Nicht der Innenminister, sondern der Bundeskanzler soll jetzt mit der Union reden, ob noch was geht bei der Zuwanderung

Es kann also mit der Konsenssuche weitergehen, nur nicht „so“ wie bisher Für was die Grünen im Detail ihr Okay gaben, ließ Bütikofer wohlweislich offen

VON LUKAS WALLRAFF

Vier Worte waren es, die dem Streit um die Zuwanderung eine, vielleicht die entscheidende Wende gaben. Vier Worte, die der Grünen-Parteichef Reinhard Bütikofer am Montag ausrief: „Das Spiel ist aus.“ Geklungen hat es wie ein radikales, endgültiges, unumstößliches Nein zu weiteren Verhandlungen mit der Union. Es sollte auch so klingen. Was folgte, war großer Jubel bei den Grünen über die neue Entschlossenheit ihrer Führung – und mindestens ebenso großer Ärger bei Innenminister Otto Schily (SPD) über den scheinbar unumkehrbar formulierten Ausstieg der Grünen im Alleingang. Doch Bütikofer hat noch einen anderen Satz gesagt am Montag. Der begann mit einem „So“. Das war das grüne Hintertürchen, das gestern flugs geöffnet wurde.

„So macht eine Fortsetzung der Gespräche keinen Sinn“, hatte Bütikofer bauernschlau hinzugefügt. Nun ist klar, warum: Es kann durchaus noch weitergehen mit der Konsenssuche, sollte das bedeuten, nur nicht „so“ wie bisher. Also nicht wie in den letzten Monaten, in einer Untergruppe einer Arbeitsgruppe im Vermittlungsausschuss, in der lauter Zuwanderungsexperten saßen, die endlos vor sich hin stritten, ohne je einem Ergebnis nahe zu kommen. Sondern auf allerhöchster Ebene. Die Zuwanderung wird Chefsache – das ist das Ergebnis der rot-grünen Koalitionsrunde gestern Mittag.

Der Kanzler höchstpersönlich soll mit der Union ausloten, „ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen ein Konsens zum Zuwanderungsgesetz zu erreichen ist“. Darauf haben sich SPD und Grüne geeinigt – und auf noch mehr: Falls der Kanzler bei seinem Bemühen scheitert, Merkel und Stoiber zu beschwatzen, wollen Rot und Grün „gesetzgeberische Wege einschlagen“, um einzelne Bestandteile des geplanten Zuwanderungsgesetzes „gegebenenfalls ohne Zustimmungspflicht des Bundesrates gesetzlich umzusetzen“.

Klingt kompliziert, die Konsequenz ist jedoch simpel: Schily verliert das Kommando über das weitere Vorgehen in Sachen Zuwanderungsgesetz – eines Gesetzes, das Schilys Gesetz werden sollte und das ihm mehr als allen anderen Koalitionären am Herzen lag. Nicht er, sondern der Kanzler hat nun das Verhandlungsmandat. Nicht er, sondern die gesamte Koalition wird gegebenenfalls am Ende über „einen gemeinsamen abschließenden Vorschlag“ an die Union entscheiden. Oder eben allein ein paar Gesetze machen – was Schily bis zuletzt verhindern wollte, um sein großes, historisches Gesetzeswerk zu retten.

Noch am Mittwoch hatte Schilys Sprecher erklärt, es sei „eine Illusion“, zu glauben, dass man ohne die Union agieren könne. „Es gilt“, sagte Schilys Sprecher, „um das klar zu sagen: Wir halten daran fest, dass versucht werden soll, dieses umfassende Reformwerk durchzusetzen, und machen uns keine Gedanken über zustimmungsfreie Lösungen.“

Diese Gedanken haben sich nun andere gemacht. Genüsslich zählte Bütikofer gestern auf, was man alles ohne die Union zuwege bringen könne: Den leicht verbesserten Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung, eine Besserstellung für Langzeitflüchtlinge, leicht verbesserte Zuwanderungsbedingungen für Höchstqualifizierte und erweiterte Integrationsmaßnahmen – für die dann allerdings der Bund allein zahlen müsste, weshalb niemand wirklich glaubt, dass sie in absehbarer Zeit beschlossen werden. Egal. Was für die Grünen zählt, ist, Schily ausgebremst zu haben.

Franz Müntefering stand stumm daneben, als Bütikofer seine Wunschliste vortrug. Dann murmelte der SPD-Chef etwas von der „Priorität“, die eine gemeinsame Lösung mit der Union auch weiterhin noch habe. Wer’s glaubt, wird selig. Wichtiger ist das Versprechen für den Fall des Scheiterns: „Wir lassen nichts liegen“, sagte Müntefering und stimmte zu, dass man vieles allein durchsetzen könne – und auch werde. Das, immerhin, haben die Grünen seit gestern erstmals schriftlich. Trotzdem war Bütikofer eine weitere Bemerkung wichtig. Er ging extra nochmal ans Mikrofon und sagte triumphierend: „Der Innenminister hat dem zugestimmt.“

Also ein grüner Erfolg auf ganzer Linie? Wohl kaum. Um den Kompromiss zu einem Kompromiss zu machen, den Schily mittragen kann, ohne sein Gesicht zu verlieren, wie es so schön heißt, sicherten die Grünen den Sozialdemokraten zu, dass sie selbstverständlich auch bereit seien, „notwendige Regelungen zu Sicherheitsfragen“ ohne die Union zu beschließen. Auch das ist schriftlich festgehalten: „Insbesondere zur Abschiebungsanordnung“ werde die Koalition auch allein tätig werden.

Zu welchen Zugeständnissen im Detail die Grünen ihr Okay gegeben haben, ließ Bütikofer wohlweislich offen. Schließlich muss er seine Grünen heute auf dem kleinen Parteitag dazu bringen, dass sie den letzten Verhandlungsversuch gestatten. Dass sie verstehen, warum aus vier klaren Worten gestern acht weniger klare wurden. „Es wird also“, sagte Bütikofer, „sozusagen ein neues Spiel angepfiffen.“