Der traurige Gute-Laune-Bär

Keiner ließ bei Werders vorgezogener Meisterschaftsfeier im Münchner Olympiastadion seinen Gefühlen so freien Lauf wie Bremens brasilianischer Torjäger Ailton. Doch der muss in der nächsten Saison in Schalke spielen – und im UI-Cup

aus münchen markus jox

Da hatte sich der FC Bayern aber eine hübsche Bandenwerbung ausgedacht: „Was nutzt ein Ailton, wenn man keine FC Bayern SparKarte hat“, prangte es fortwährend in großen Lettern am Spielfeldrand. Die einfache Antwort auf diese rätselhafte Frage gab der Brasilianer selbst – mit seinem wunderschön über den unglücklichen Oliver Kahn hinweg ins linke obere Eck gezirkelten Schuss zum 3:0 der Bremer im Münchner Olympiastadion. Spätestens seit dieser 35. Spielminute half den Bayern auch keine SparKarte mehr.

Dass Ailton aber unmittelbar nach seinem Treffer von Schiedsrichter Edgar Steinborn die gelbe Karte gezeigt bekam, weil er es gewagt hatte, sein Trikot zum Jubeln auszuziehen, wirkte dann schon sehr kleinkariert – der DFB sollte über diese lust- und ästhetikfeindliche Regelung noch einmal ernsthaft nachdenken.

Keiner im Team von Werder Bremen konnte sich in der Höhle des Löwen so herzzerreißend über die Meisterschaft freuen wie der 30-jährige Wohl-bald-Torschützenkönig der Fußball-Bundesliga, keiner ließ seinen Gefühlen so freien Lauf wie Ailton. Während sein Trainer Thomas Schaaf nach dem Schlusspfiff minutenlang wie weiland Kaiser Franz 1990 in Rom nach dem WM-Triumpf in sich gekehrt über den Rasen schlich, rannte Ailton wie von der Tarantel gestochen umher, ließ sich von den mitgereisten 8.000 Werder-Fans umjubeln, reckte ein Papp-Imitat der Meisterschale empor und tollte mit seinen Mannschaftskameraden über die Tartanbahn.

Umlagert von Reportern ergoss sich ein deutsch-portugiesischer Redeschwall aus Ailtons Mund, in dessen Zentrum die Vokabeln Bier, Champagner, Deutscher Meister, Schaaf, Mannschaft und Pokalfinale sowie die Wendung „alles gut“ standen. Dann, urplötzlich, entdeckte der Brasilianer den über den Rasen wandelnden Schaaf, lief auf ihn zu, sprang ihn an, umarmte und herzte den Trainer, der trotz aller Kapriolen und Launen des Südamerikaners stets zu Ailton gehalten hatte.

Thomas Schaaf soll es auch gewesen sein, der seinem Spieler in langen persönlichen Gesprächen beistand, als dessen Mutter und Bruder ums Leben kamen. „Beide haben im Himmel zugeschaut“, sagte Ailton nach dem Schlusspfiff in München – und sackte kurz darauf hemmungslos weinend auf den Rasen. Sportdirektor Klaus Allofs eilte sogleich zu Ailton, versuchte ihn zu trösten, kurz darauf kamen auch Schaaf und Co-Trainer Kalli Kamp dazu. Einen langen Moment sahen die vier Männer aus wie eine in Stein gehauene tragische Figurengruppe aus der Antike.

Ailton als Gute-Laune-Bären gab es dann wieder in der Umkleidekabine des Deutschen Meisters zu sehen: Das Fernsehen zeigte gar unzüchtige Bilder aus dem so genannten „Entmüdungsbecken“, in dem manch Werder-Spieler im Adamskostüm unterwegs war, während andere in voller Montur in das Wasser gesprungen (oder wie Sportdirektor Klaus Allofs geworfen worden) waren. Unter anderem konnte man einen enthemmten, nackten Ailton dabei beobachten, wie er glückselig Koitusbewegungen imitierte.

Am nächsten Samstag wird Ailton die echte Schale in Händen halten dürfen. Vielleicht, nein gewiss, schießt er noch zwei, drei Tore für Bremen in dieser Saison. Dann kommt am Pfingstsonntag das Finale um den DFB-Pokal in Berlin – und schwupps geht es für den Bremer Star nach Gelsenkirchen, unter die Fuchtel von Jupp Heynckes und Rudi Assauer. Statt mit Werder Bremen in der Champions League, muss er mit dem FC Schalke 04 voraussichtlich um den UI-Cup kicken.

Angeblich, so plauderte Werders Sportdirektor Allofs gestern aus dem Nähkästchen, bereut Ailton den Wechsel bereits zutiefst. Aber unterschrieben ist eben unterschrieben.

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