DEUTSCHE ATOMKRAFTGEGNER MÜSSEN SICH DEUTLICHER POSITIONIEREN
: Atomkraft auf der Kippe

Die Systemtheorie beschreibt präzise jenen Punkt, an dem ein dynamisches System in die eine oder in die andere Richtung kippt. Genau an diesem Punkt steht derzeit die Atomenergie: Es gibt weltweit Signale für eine Renaissance der Atomkraft. Und es gibt zugleich Zeichen, dass die Kernspaltung als Energieform der Sechziger- und Siebzigerjahre ein Auslaufmodell ist.

Welche Einschätzung zutreffen wird, kann heute niemand sagen. In Finnland soll 2009 ein neuer Atomreaktor ans Netz gehen und nach dem Willen der Nuklearwirtschaft eine Welle von Kraftwerksbauten in aller Welt auslösen – etwa in Frankreich und Osteuropa. Und dann – so hofft die Atomlobby – werde auch Deutschland vom neuen Atomwahn erfasst. Andererseits wurden in Schweden, Belgien, den Niederlanden und Deutschland längst Ausstiegsbeschlüsse gefasst, Österreich und Italien haben ihre atomare Ära bereits beendet. Weitere europäische Staaten lehnen die Atomkraft heute noch hartnäckiger ab, als sie es ohnehin bisher taten. Ferner nicht ganz unwichtig: Erstmals in der Geschichte der Atomkraft ging 2003 die weltweit erzeugte Menge an Atomstrom zurück.

Ein wichtiges Argument gegen eine Renaissance der Nuklearenergie sind ferner die erneuerbaren Energien. Sie sind weltweit in einem strammen Tempo auf dem Vormarsch und lassen es daher kaum realistisch erscheinen, dass die Menschheit jemals wieder hinter die sauberen, ungefährlichen Energien zurückfallen könnte. Zumal immer weniger Menschen Verständnis aufbringen für den Einsatz einer so gefährlichen Technologie wie der Atomspaltung in einer durch Terrorismus unsicherer gewordenen Welt.

Aber es ist das Wesen eines jeden komplexen dynamischen Systems – und die gesellschaftliche Akzeptanz der Atomkraft ist ein solches –, dass die Entscheidung, in welche Richtung es letztendlich kippen wird, von minimalen Faktoren abhängen kann. Aus diesem Grund ist es gerade zum jetzigen Zeitpunkt wichtig, dass Atomkraftgegner sich auch in Deutschland wieder deutlicher positionieren.

BERNWARD JANZING