: SPD, CDU und die populistische Versuchung
Zum Auftakt des Europawahlkampfs widerstehen Schröder und Merkel der Verlockung, ihre Gassenhauer ins Zentrum zu rücken. Die Union will nicht gegen einen türkischen EU-Beitritt hetzen, der Kanzler nicht gegen George W. Bush
SAARBRÜCKEN/ERFURT taz ■ „Europa 2004. Deutschland kann mehr.“ Das Motto der CDU im Europawahlkampf, den Parteichefin Angela Merkel und Exbundeskanzler Helmut Kohl am Sonnabend in Saarbrücken einläuteten, war bezeichnend. Um Deutschland geht es der Union vorrangig, weniger um Europa.
Die Bundesregierung habe die rund 80 Millionen Deutschen zum „Experimentierfeld ihrer nicht ausgetragenen internen Konflikte gemacht“, sagte Merkel, daher gehöre Rot-Grün „abgestraft“. Der Schulterschluss mit der Schwesterpartei CSU, die zeitgleich in Nürnberg ihren Europawahlkampfauftakt zelebrierte, ist damit – innenpolitisch – vollzogen. Auch für CSU-Chef Edmund Stoiber ist der Europawahltermin bis zur nächsten Bundestagswahl 2006 „die einzige Möglichkeit, der rot-grünen Bundesregierung bundesweit die rote Karte zu zeigen“. Doch schon bei der Frage nach einem eventuellen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union scheiden sich zwischen CDU und CSU – und auch innerhalb der CDU – die Geister.
Während die CSU die Europawahl auch zu einer „Volksabstimmung über die Aufnahme der Türkei in die EU machen“ will, halten gestandene Europapolitiker in der CDU genau das für falsch. Die Türkei stehe derzeit nicht auf der politischen Agenda der EU, sagte etwa die saarländische Europaabgeordnete Doris Pack in Saarbrücken. Auch CDU-Generalsekretär Lorenz Meyer argumentierte, die Türkei sei „kein Thema für die nächsten zehn Jahre“, eine „Bundesregierung im Endstadium“ aber ein ganz aktuelles. Trotzdem warnte Meyer anschließend vor einem verfrühten Beitritt der Türkei, der die „Identität Europas“ gefährde. Das Land gehöre einem anderen Kulturkreis an; und es lebten dort mehr Menschen als in den zehn neuen Beitrittsländern zusammen. Auch Parteichefin Angela Merkel sprach sich gegen die Türkei als Aufnahmekandidat für die EU aus, erneut aber für eine enge Anbindung des Landes an Europa. Im Wahlkampf werde auch das ein Thema sein – aber nicht das Wahlkampfthema.
Was der Union die Türkeifrage, ist der SPD die Politik von US-Präsident George W. Bush – die Versuchung, mit Populismus Wahlkampf zu machen. Beim Landtags- und Europawahlkampfauftakt der SPD in Erfurt vermied Bundeskanzler Gerhard Schröder allerdings eine weitere Verschärfung der Irakdebatte. Wie schon beim SPD-Landesparteitag Ende März in Jena bekräftigte er zwar auch am Freitagabend nochmals die Richtigkeit der Entscheidung, sich nicht aktiv am Krieg zu beteiligen. „Die CDU ist in dieser Frage auch endlich zur Einsicht gekommen“, rief Schröder. Der Kanzler ging jedoch nicht auf die aktuellen Berichte über Misshandlungen irakischer Gefangener ein. Kritik an den USA übte er nur indirekt. Gerade die Europäer mit ihrer leidvollen Geschichte hätten ein Gespür dafür, dass Gewalt nur das allerletzte Mittel sein kann. Es komme darauf an, Ursachen des Terrorismus wie Armut und Unterdrückung zu bekämpfen.
Vom Thüringer Spitzenkandidaten Christoph Matschie als großer Europaapostel angekündigt, widmete Schröder den Hauptteil seiner Rede der „Friedensmacht Europa“. „Nur ein vereintes Europa kann im Irak eine positive Rolle spielen!“ Doch das Volk von Erfurt ließ der Kanzler mit diesen Weltthemen offenbar im Dauerregen stehen. Pfiffe, Zwischenrufe und Plakate sagten, wovon die Bürger wirklich kalte Füße bekommen: „Wer Arbeitslose, Rentner, Kranke quält, wird abgewählt!“ Am Rande wurde heftig über Armut und Reichtum, aber nicht über Europa oder Friedensfragen diskutiert. In Thüringen bleibt die Europawahl klar im Schatten der am selben Tag stattfindenden Landtagswahl und der sie beeinflussenden Bundesthemen. Der Ostmoral aufzuhelfen, blieb Ostminister Manfred Stolpe vorbehalten, der sich festlegte auf die bisher stets ominös gebliebene Dauer des Aufbaus Ost: „Wir sind genau bei Halbzeit.“ Am 31. Dezember 2019 um Mitternacht läuft der Solidarpakt aus.
K.-P. KLINGELSCHMITT M. BARTSCH