Ungeklärte Machtfrage in der Union

Horst Seehofer (CSU), Verhandlungsführer für die Union, profitiert vom Gerangel zwischen Stoiber und Merkel

BERLIN taz ■ So viel Rebellentum war in der Union noch nie erlaubt. Selbst Christian Ströbele, der grüne Quertreiber vom Dienst, dürfte neidisch werden, wenn er sieht, was sich der CSU-Kollege Horst Seehofer alles leisten darf. Da kritisiert der Sozialexperte eine Woche lang in aller Öffentlichkeit das Gesundheitskonzept der eigenen Partei. Da bleibt er trotz immensen Drucks von oben bei seiner Außenseitermeinung – und wird am Ende Verhandlungsführer der Union. Die Personalentscheidung, die Angela Merkel und Edmund Stoiber am Sonntagabend trafen, wirkt auf den ersten Blick in etwa so plausibel wie eine Ernennung Ströbeles zum Verteidigungsminister.

Warum also machen die das? Die Antwort lautet: Seehofer ist konkurrenzlos. „Ich weiß nicht, ob ein anderer jemals im Gespräch war“, verriet Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach (CDU) gestern der taz. Auch Bosbach, der Seehofers Eignung als Verhandlungsführer mit am lautesten in Frage stellte, räumt damit kleinlaut ein: Weder CDU noch CSU verfügen über einen anderen Gesundheitsfachmann ähnlichen Kalibers. Hat also schlicht der Schlaueste gewonnen? Zählt in der Union neuerdings Sachkenntnis mehr als Unterordnung? Ganz so ist es natürlich nicht.

Seehofer profitiert von der ungeklärten Machtfrage in der Union – und von den Wahlterminen. Als Vize der CSU ist er tabu für Fraktionschefin Merkel. Erst recht vor der bayerischen Landtagswahl im Herbst, bei der Seehofer die Stimmen der kleinen Leute holen soll. Ihn jetzt als Gesundheitssprecher abzusägen, hätte den Frieden zwischen den Schwesterparteien empfindlich gestört. Denn ganz gleich, ob Stoiber Seehofer inhaltlich unterstützt (was beim Zahnersatz nicht der Fall ist) – wenn es gegen Merkel geht, muss er seinen Vize schützen, der vor allem beim starken Arbeitnehmerflügel der CSU beliebt ist. Eine Absetzung Seehofers kam also weder für Stoiber noch für Merkel wirklich in Frage. Und nach allem, was man aus der Union hört, hat es Merkel auch nicht versucht.

Langfristig könnte es sich für Merkel sogar auszahlen, dass sie Seehofers Rebellierei jetzt durchgehen lässt. Seehofers Meinung passt zwar nicht zum CDU-Konzept, aber zur Großwetterlage – und die heißt für Merkel: mehr Kooperation mit der SPD. „Die Lage hat sich dramatisch geändert“, sagt ihr Fraktionsvize Bosbach, „wir können nicht mehr blockieren, wie das Lafontaine früher im Bundesrat gemacht hat.“ Die Menschen hätten immer weniger Verständnis für Parteistreit, so Bosbach, und weil die Wirtschaftslage „in der Tat dramatisch ist, wächst natürlich auch der Druck auf die Union, an Lösungen konstruktiv mizuarbeiten“.

Genau diesen Willen hat Merkel signalisiert, beim Telefonat mit Gerhard Schröder und bei ihrer Bundestagsrede zur Gesundheitsreform. Und Seehofer? Passt sehr gut dazu. Steht für Kooperation mit der Regierung. Kann gut mit Ulla Schmidt. Wäre ein möglicher Minister in einer großen Koalition, in der wiederum Angela Merkel … Nein, so weit dürfte sie nicht denken. Aber es kann ihr nicht ungelegen kommen, dass konservative Zeitungen wie die Welt in diese Richtung spekulieren. Als Partei- und Fraktionschefin wäre sie die geborene Vizekanzlerin. Stoiber und Koch wären bis 2006 so gut wie ausgebootet.

Zukunftsmusik. Aber auch bei der Zuwanderung häufen sich die freundlichen Signale. Die Annäherung zwischen CDU und SPD ist den kleinen Parteien nicht entgangen. Vor allem die Grünen müssen sich sorgen, zwischen den Großen zerbröselt zu werden. Nicht zuletzt deshalb betont Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gerade jetzt grünes Selbstbewusstsein. „Rot-Grün war für mich nie ein Projekt“, sagte Göring-Eckardt dem Spiegel und fügte feinsinnig hinzu: „Derzeit sind die Übereinstimmungen mit der SPD am größten.“ Derzeit. Irgendwann könnte es auch Schwarz-Grün sein, soll das heißen.

LUKAS WALLRAFF