Ein Prediger unter den Bekehrten

Der Liedermacher Jörg Lehwald erarbeitet mit Schülern im Ruhrgebiet Musik gegen Hass, Krieg und Gewalt – Kann das heute noch klappen?

„Ich bin mir nicht sicher, ob man die erreicht an der Grenze zu gewaltbereiten Gruppen“ „Zeigefingerpädagogik prallt an den Jugendlichen ab, wie der Regen“

VON PETER ZICKGRAF

Jörg Lehwald aus Gelsenkirchen ist eine Friedensposaune. Troubardour, Lehrer, Prediger – alles in einer Person. Es muss was mit Lehwald passiert sein am 11. September 2001, als die beiden Passagierjets die Twin Towers verglühen ließen. Auch als Robert Steinhäusers 16 Menschen in einem Erfurter Gymnasium umbringt. Mit einem Mal wird aus dem Lokalpoeten und Liedermacher ein Friedenstrommler.

Mit Schülern aus dem Revier schreibt Lehwald seither Friedenssongs. Im März veröffentlichte Lehwald sein Friedensmusikprojekt auf CD-Rom: Es soll Deutschlandweit verbreitet werden, Lehwald möchte erhört werden. Wird er?

“Die Zeit der Botschaften, die etwas bewirken wollen, ist vorbei“, grübelt selbst der Liedermacher Lehwald. Die Leere, in die Pop und Rockmusik gefallen sind, werde zusehends ausgefüllt durch eine Kommerzialisierung der Musik. Auch Popmusik hat längst ihren Heiligenschein verloren: Vor dem UN-Tribunal steht der 49-jährige Sänger Simon Bikindi aus Ruanda unter schwerer Anklage: Dem einst gefeierten Sänger wird die Anstiftung zum Völkermord vorgewurfen. Als vor zehn Jahren Hunderttausende mit Mordwerkzeugen loszogen, um 800.000 Tutsi zu massakrieren, sollen sie von Bikindis Radiohits ermuntert worden sein. In verklausulierter Form soll er zum Massenmord an der Bevölkerungsminderheit der Tutsi aufgerufen haben. An deutschen Schulen, in Jugendmilieus schürt Musik von rechtsextremen Bands Hass und Gewalt.

Vielleicht bekämpft die Gerhart-Hauptmann-Realschule auch nur ein Phantom: „Das Kollegium unterstützt alle Bemühungen für eine gewaltfreie Schule“, sagt der Englischlehrer Herbert Fox, der die künstlerischen Schulaktivitäten für den Dialog über Gewalt, Krieg und Sozialengagement koordiniert. Am Wendepunkt zum eigentlichen Beginn des 21. Jahrhunderts wollte die Schule in Gelsenkirchen ihr 35-jähriges Jubiläum feiern. Doch der 11. September 2001 machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Das Jubiläum wurde verschoben, dafür rückten Krieg und Gewalt in den Blickpunkt. Arbeitsgruppen bildeten sich, die Schülervertretung engagierte sich gegen Krieg.

2002 lädt die Schule aus dem Gelsenkirchener Stadtteil Erle den ebenfalls in Erle lebenden Künstler Lehwald zu einem Anti-Gewalt-Projekt ein. Der Musiker diskutiert mit elf Jugendlichen zwischen 16 und 17 Jahren über Ängste, Liebe, Multikulturalität und die zunehmende Bereitschaft zur Gewalt. „Die Teens haben endlose Fragen zu Gewalt oder Krieg“, so der Barde. Aus diesen Aktivitäten geht ein Song der Schüler hervor, den Lehwald zusammen mit seinem Gitarristen produziert. Dann schockiert am 26. April 2002 der Amokläufer von Erfurt die Öffentlichkeit – die Schüler-CD „Stoppt die Gewalt“ wird mit einem Schlag aktuell: „Stoppt die Gewalt! Und reicht euch die Hände! Macht diesem Schwachsinn doch endlich ein Ende!“

Auch der Song macht Karriere, beschallt die „Arena auf Schalke“, kam ins Radio. Selbst die UNESCO fragt nach der CD. „Durch solche Lieder bekommen die Kinder ein immenses Selbstvertrauen“, sagt Lehwald mit breitem Gesicht. Eigentlich war Musik mit politischen Botschaften seit den 80er Jahren aus der Mode gekommen. An der Schule in Gelsenkirchen versucht sie mit dem Liedermacher eine Renaissance. Es kommt Lehwald dabei nicht auf einen bestimmten Musikstil an: die Schüler können Rocksongs oder Technosounds arrangieren. Hauptsache sie transportieren eine Botschaft gegen Hass, Krieg und Gewalt.

Seinen VW-Käfer dirigiert der Liedermacher Lehwald, Jahrgang 1955, wie Don Quichotte seinen lahmenden Gaul Rocinante durch einen hektischer werdenden und zuweilen gnadenlosen Verkehr. Es ist kein leichter Job, heutzutage Künstler und Musiker zu sein. Lehwald kommt ursprünglich aus dem Blues, hat sich musikalisch in die Folklore, Pop, Rock und Minnegesang vervielfältigt. Als Liedermacher wirkt Lehwald wie ein Schiff in der Brandung: Immer wieder rollen neue musikalische Wellen auf ihn zu, klatschen auf den Schiffsrumpf und lösen sich auf in weißem Schaum, nur Lehwald bleibt und verbreitet seine Friedensbotschaft.

Was aber bringt es, die Gutmeinenden auf dem Pfad der Tugend vom Gutmenschen Lehwald bessern zu wollen? Was würde passieren, wenn Lehwald hartgesottene Jugendliche mit menschenverachtenden und gewaltbejahenden Einstellungen bekehren sollte?

„Alles, was nach Pädagogik riecht, wird sofort von den Jugendlichen zurückgewiesen“, meint der Musikwissenschaftler und Journalist des Schweizer „Tagesanzeiger“ Jean-Martin Büttner aus Bern. Projekte mit Künstlern oder Musikern an den Schulen seien an sich etwas Großartiges: “Doch bin ich mir nicht sicher, ob man die Leute erreicht, die an der Grenze stehen zum Beitritt in gewaltbereite, politische Gruppen“, sagt der Autor von „Sänger, Songs und triebhafte Rede“. Erreicht Lehwald solche Gruppen?

Schon der Poptheoretiker Diederich Diederichsen hat auf die paradoxe Situation hingewiesen, dass auch Jugendliche, die an Rockkonzerten teilnehmen, hinterher mit Baseballschlägern losziehen, um Ausländer niederzuschlagen. “Ich warne vor dem Gut meinen“, gibt Büttner zu Bedenken. „Praying to the converted“, die Predigt an die Bekehrten, bringe gar nichts.

Ähnlich sieht das Winfried Kneip von der Yehudi-Menuhin-Stiftung, der im Rahmen des Muse-Projektes mit Kindern in der Gewaltprävention arbeitet: “Kleine Projektchen bringen nicht viel. Die Arbeit mit den Kindern muss langfristig angelegt und sie darf nicht verschult sein“. Musiker sollten mindestens ein Jahr lang – am besten aber drei Jahre – die Kinder begleiten: „Nur so ist eine permanente Weiterentwicklung möglich“, sagt Kneip. Ob Lehwald diese Ausdauer aufbringt?

Auch Gabriele Lieber, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Programms ‘Kulturelle Bildung im Medienzeitalter‘ der Bund-Länder-Kommission hält nicht viel von einer “Zeigefingerpädagogik“: „Das haben die Jugendlichen sofort raus.“ Man sollte auf keinen Fall als Pädagoge an die Schüler herantreten: „So was prallt an den Jugendlichen ab, wie der Regen“. Projekte wie die von Lehwald, die Kritik mit Handeln verbinden, findet sie aber durchaus lobenswert.

Die Jugendlichen mit ihrer eigenen Musik anzusprechen, ist für Lieber der richtige Weg. Doch ist Musik keineswegs nur selig machendes Medium: “Musik geht tiefer als Bilder, sie greift Emotionen auf, spricht das Irrationale an und kann deswegen auch gefährlich werden“, fügt Gabriele Lieber hinzu.

Elli Forest ist es gelungen, mit ganz schweren, gewalttätigen Jungs einen Videoclip zu drehen: Die „schrecklichen Texte“, die sie dazu geschrieben haben, rüttelten die Jugendlichen wach und haben sie dazu gebracht, sich kritisch mit ihrer eigenen Gewaltbereitschaft auseinanderzusetzen. Dies berichtete Forrest auf der International Society for Education im August 2002. Gewalt scheint derzeit im Kommen: „Absolut gesehen können wir eine deutliche Zunahme der Gewalt auch bei den Mädchen feststellen“, sagt Silke Bruhns vom Deutschen Jugendinstitut.

Der Schlüssel zu einer wirksamen Strategie gegen Gewalt dürfte genau hier sein: kontinuierliche Arbeit in musikpädagogischen Gruppen mit den potentiellen Tätern, deren Gewaltbereitschaft immer größer wird. Alles andere ist wohlmeinende Pädagogik, die niemandem weh tut und unter dem Strich dazu beiträgt, dass an den Schulen ein besseres Klima gedeiht.

So wie an der Realschule in Gelsenkirchen, in der Musik und Kunst aus der Schule nicht mehr wegzudenken sind, ebenso wenig wie Jörg Lehwald: “Wir haben ein Klima geschaffen, bei dem sich die Schüler wohlfühlen können“, sagt Schulleiter Friedrich-Wilhelm Quabeck. An der Schule in Gelsenkirchen gibt es eine Musical Gala, Wandmalereien oder Plakate gegen Gewalt. Über diese weichen Maßnahmen wurde aber ein strikter Ordnungsrahmen gebaut: „Ein Schüler, der zur Gewalt greift, ist bei uns ganz schnell draußen“ – Quabeck lässt keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit. Zuckerbrot und Peitsche.

Immerhin bekommt Schalkes Fußballer Gerald Asamoah von den Einnahmen aus der Musikgala der Schule 1.500 Euro für die Unterstützung von schwangeren Mädchen in seinem Heimatdorf in Ghana.

All dies hat sich offenbar rumgesprochen, denn die Schülernachfrage übersteigt laut Quabeck bei weitem die Aufnahmekapazitäten der Realschule. Auf Troubardour Jörg Lehwald ist an der Realschule im Revier jedenfalls immer Verlass: Obwohl er eigentlich keine Konzerte in Gelsenkirchen gibt, macht er für die Realschule demnächst mal wieder eine Ausnahme.