Das blonde Rattengift

Carmen Nebel – die Zwanzig-Millionen-Euro-Frau. Ein objektives Porträt

Carmen Nebel spielt die Moderatorin, das Publikum spielt das Publikum

Carmen Nebel wurde 1956 in Grimma geboren. Das kann man verstehen. Sie studierte 1975 bis 1979 auf Deutsch- und Englischlehrerin und übte diesen Beruf sogar aus. Auch darauf steht noch keine Strafe. Bei einem Talentewettbewerb für TV-Moderatoren wurde sie 1979 „entdeckt“ und jobbte für das Fernsehen der DDR. Erst damit nahm das Unheil seinen Lauf. Von 1979 bis 1986 moderierte sie verschiedene Fernsehshows, ab 1990 alles Mögliche. Carmen Nebels Markenzeichen sind züchtig hochgeschlossene Kostüme, zumeist von ihrer Lieblingsdesignerin Rena Lange in München. Ihr Modegeschmack privat: „am liebsten Schwarz“. Daher ihr Deckname „Lady in Black“.

Carmen Nebels im Gegensatz dazu blütenweiße Formulierungen kommen „ganz sehr“ (Carmen Nebel) ohne Zeichensetzung aus, aber ihre Stilblüten setzen Zeichen. Und Maßstäbe. Sonst wäre sie nicht „die beliebteste TV-Moderatorin Deutschlands“ (Super Illu). Das ist nicht ihr Verdienst, das war ihr Glück.

Analytiker attestierten ihr Unentschlossenheit „zwischen diffusem Begehren und der Furcht vor Verstrickung“ (Der Spiegel). Aber das ist viel zu hoch gelegt. Niemand, nicht mal der männliche Teil ihres Publikums, käme auf den kühnen Gedanken, in ihr eine Frau zu vermuten. Sie trägt den richtigen Nachnamen, denn dichter Nebel umhüllt alle matten Reste eines vielleicht einst vorhandenen Sexappeals, der doch so dringend nötig wäre, um auf der Basis von vorgegaukelter Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit einen zumindest halbverbindlichen Trost zu spenden. Was aber noch bedrückender ist: Sie symbolisiert auch keine Mutter, eine Schwester noch weniger; weder zur Freundin noch zur handelsüblichen Tante will es reichen. Übrig bleibt der fast nahrhafte Charme einer vorwiegend festkochenden Speisekartoffel.

Den Soundtrack für Carmen Nebel liefert die so genannte Volksmusik, die es im Wortsinn gar nicht mehr gibt und die in Wirklichkeit „Volkstümliche Musik“ heißen müsste. Aber die Wirklichkeit hat zu Carmen Nebels Topografie des Taumels keinen Zutritt. Produziert wird diese sequenzerverschmierte Designermusik von korrupten Zynikern, die einen Job erledigen, den kein anderer machen möchte. Deren krudem Verständnis, was die Kalkhirne da draußen angeblich wollen, entspringt eine wahre Flut irreparabel verseuchter Melodien, holpernder Dreibisviervierteltakte und molekulartheologischer Textornamente, wofür jeder Sonderschüler fünf Jahre nachsitzen oder wenigstens sämtliche Tintenpatronen zerkauen und runterschlucken müsste.

Carmen Nebels Fernsehgemütlichkeit kann nur von Menschen gemocht werden, denen schon alles egal ist. Und das werden immer mehr. Ihr Publikum lacht nicht wirklich, da es nichts zu lachen hat. Pure Trostlosigkeit bricht ihm aus den müden Augen. Daher funktionieren die „Feste der Volksmusik“ höchstens auf spielerischer Basis: Carmen Nebel spielt die Moderatorin, das Publikum spielt das Publikum. Der große Vorteil des guten alten Volksmusikgerichtshofs und verbindlicher Frohsinnsprotagonisten wie Achim Mentzel und Karl Moik war, dass er den Menschen eine Scheinwelt anbot, die sie streckenweise erträglich finden konnten.

Carmen Nebels Unverbindlichkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Menschen einigen können, die einander die Welt nur noch unerträglich machen wollen. Denn im wirklichen Leben der Postpostpostmoderne böllert ein Dauerfeuer aus Events und Megahighlights. Jeder Gebrauchtwagenhändler jongliert im Nebenerwerb mit „Visionen“, jeder Dorfpastor steht auf Philharmonic Rock, Vera Lengsfeld läuft nach wie vor frei herum, die eigene Tochter hört Doom Metal, und der Sohn pinkelt im Sitzen. Was früher als pervers galt, wird heute Pflichtprogramm. Es gibt kein Entrinnen mehr. Damit hat sich das Publikum abgefunden. Und eben auch mit Carmen Nebel.

Carmen Nebels erste Volksmusiksendung, 1994, „sahen“ 6,52 Millionen Zuschauer. Bald wurden daraus neun Millionen. Mit ihrem Dualismus aus Fönwelle und Glitzerteilchen wird das blonde Rattengift aus Grimma es dahin bringen, dass dermaleinst alle Bundesbürger ihre Volksmusiksendungen, Galas und Autohaustaufen „sehen“. Aus purer Verzweiflung. Diese simple Erkenntnis, ja vielleicht einen Rest Verantwortung für unsere Nachkommen und unser Erbgut beherzigend, hat die ARD einen Schlussstrich ziehen wollen – möchte man meinen. Doch Irrtum! Carmen Nebel ist aus freien Stücken zum Frührentner-TV nach Mainz desertiert. Und satte zwanzig Millionen wiegt der Vierjahresvertrag. Euro. Morgen gehört ihr Deutschland, übermorgen die ganze Welt. Wetten, dass …?MICHAEL RUDOLF