Chapeau für einen Wicht

Die Türkei erkämpft sich mit Dynamik und Raffinesse ein 2:2 gegen Brasilien, zieht ins Halbfinale des Konföderationen-Cups gegen Frankreich ein und etabliert sich immer mehr als Fußball-Weltmacht

aus St. Etienne MARTIN HÄGELE

Es gab keinen Aufstand, als Carlos Alberto Parreira die missglückte Expedition zum Konföderationen-Cup noch einmal rechtfertigte. „Wir wollten ins Finale nach Paris“, so der Coach der „Seleçao“, und dieses Ziel habe man mit dem 2:2 gegen die Türkei, das nicht zum Halbfinale reichte, leider verfehlt. In den Medien von Rio und São Paulo werden die Kritiker deshalb noch nicht nach den Messern greifen. Ganz anders als vor zwei Jahren, als Parreiras Vorvorgänger Leão nach dem Ausscheiden beim letzten Erdteil-Turnier in einer Lounge auf dem Flughafen Narita eröffnet wurde, er sei vom Dienst suspendiert.

Die Reserve des Weltmeisters hat sich in Frankreich allerdings auch anders präsentiert als Leãos Leute bei ihrem gescheiterten WM-Testlauf im Sommer 2001. Lange Zeit hatte es auch am Montag in St. Etienne so ausgesehen, als seien die Herrschaften in den kanariengelben Hemden erst jetzt richtig in den Wettbewerb eingestiegen. In der Neuauflage der zwei WM-Partien schien der Champion seinen türkischen Herausforderer deklassieren zu wollen; Emerson gab seinem Kollegen Bastürk eine Lektion nach der anderen, wie ein großer Stratege ein Spiel aufzieht. Und hätte Adriano die zahlreichen Chancen mehr als einmal abgeschlossen – dann stünde hier ein Nachruf auf die allzu vollmundig propagierte junge Fußball-Weltmacht vom Bosporus.

Als solche muss man die Türkei nun einordnen. Bastürk, der das Duell gegen Emerson im zweiten Spielabschnitt haushoch gewann, hatte sich nicht an dem von seinen Landsleuten und ganz besonders von Trainer Senol Günes, einem scheinheiligen Scharfmacher, gepflegten Revanche-Gedanken verleiten lassen. Viel wichtiger sei es doch, dass die Mannschaft nach der Pause die richtige Einstellung gefunden habe, und wie sich die jungen Leute angepasst hätten. Deshalb, so Bastürk, könne man sagen, „dass diese Mannschaft eine große Zukunft hat“.

Da ist etwa der schmächtige Tuncay Sanli, der neue Volksheld. In dieser Rolle wird der 21-Jährige schon bald Hakan Sükür ablösen. Auf dem Weg zur internationalen Karriere hat Tuncay längst den „türkischen Beckham“, wie der im Allgäu aufgewachsene Ilhan Mansiz nach der WM gefeiert wurde, überholt. Und mit Gokdeniz Karadeniz, einem 23-jährigen Leichtgewicht vom Provinzklub Trabzonspor, meldete sich gleich der nächste Shootingstar am Firmament. Wie dieser Wicht den durchaus beweglichen brasilianischen Verteidigern zusetzte, wie abgezockt er beim Ausgleichstreffer den Ball über den Riesen Dida lupfte, Chapeau!

Ob auch die Franzosen den Hut ziehen müssen vor den neuen Rivalen, die so frech an die Tür des europäischen Fußball-Establishments pochen? In ihrem Wohnzimmer, dem Stade de France in Paris, werden Henry und Kameraden morgen schon eine ordentliche Leistung abliefern müssen, um sich diese ehrgeizigen Aufsteiger vom Hals zu halten. Und in und um die Arena im Stadtbezirk St. Denis werden Sondereinheiten der Polizei gefragt sein, die mit dem Temperament von zigtausend Menschen klarkommen. Fans, die mit rot-weiß bemalten Köpfen und Oberkörpern oder in rote Fahnen gehüllt, ihren persönlichen Teil dazu beitragen wollen, den Halbmond über dem Fußball-Globus aufgehen zu lassen.

Der Grat zwischen Begeisterung und Chaos ist dabei verdächtig schmal. Und der türkische Trainer ist an dieser Entwicklung nicht schuldlos. Wann immer er kann, spielt Günes die soziale Karte vom armen Volk am Ende des Kontinents, das von den andern benachteiligt wird. Vor dem Treffen mit dem Europameister sind es die Privilegien der Gastgeber, die in Paris in ihren eigenen Betten und obendrein auch noch einen Tag länger ausschlafen können. „Ich wollte erst im Finale auf Frankreich treffen“, monierte der Trainer. So schnell wachsen die Ansprüche. Denn eigentlich müsste Herr Günes dankbar sein, dass er bei dieser Veranstaltung überhaupt mitmachen darf. Die Türkei wurde nämlich erst nachträglich zum Konföderationen-Cup eingeladen. Nachdem Vizeweltmeister Deutschland dankend abgesagt hatte.