berliner szenen Der Einzeiler

Liebe Genossen

Lange habe ich gezögert. Die Sache hin und her gewendet. Irgendwie war ich blockiert. Die Sache mit dem weißen Blatt. Doch dann habe ich den Einzeiler geschrieben. Nur die Anrede war ein Problem. Liebe Freunde? Nein, zu persönlich. Liebe GenossInnen? Nein, stimmt ja auch nicht mehr. Werte Damen und Herren? Viel zu förmlich. Also gut: Sehr geehrte Damen und Herren. Das geht immer. Punktum. Dann der Einzeiler: Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Unterschrift. Datum vom 1. Mai. Briefumschlag. Und jetzt noch eine Briefmarke kaufen in den Allee-Arkaden. Keine mit Bild und echten Zacken. Eine aus dem Automaten. Billig und unpersönlich. Als ich auf die Straße trete, grüßt Herr Krähenburg aus dem Vorderhaus. Der hatte schon immer das Neue Deutschland abonniert. Hat jetzt ja ein neues Layout.

Einmal, Mitte der Neunziger, habe ich Stefan Heym gewählt, als der für den Bundestag kandidiert hat. Das letzte Mal aber wieder Thierse. Auf jeden Fall habe ich jetzt einen Weg gefunden, die Praxisgebühr wieder hereinzubekommen: durchschnittlich viermal im Jahr zum Arzt, gegenfinanziert durch die eingesparten Mitgliedsbeiträge. Negative Dialektik nennt man das wohl. Auf der Schönhauser Allee begegnet mir ausgerechnet Herr Langwasser, Schriftführer aus meinem Unterbezirk. „Na, auf dem Weg zur Post!?“ Hat der doch glatt den Umschlag gesehen. „Äh, genau, schnell noch einen Brief abschicken …“ „Jaja, schreib mal wieder, hihi, sagt man ja, nicht wahr!?“ „Mmh!“ Herr Langwasser hat mir im letzten Herbst mal einen ausziehbaren Multifunktionstisch geborgt. Als Dauerleihgabe unter Genossen. Ich glaube, demnächst will er ihn wiederhaben. ANSGAR WARNER