Tourismus ohne Triebstau

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Die Bilder aus Abu Ghraib sind lauter fotografierte Machtbeweise kleiner Leute

Die Reaktion der muslimischen Welt ist eher verhalten. Folter? „Folter ist ein fester Bestandteil der arabischen Tradition“, kommentierte eine Beiruter Tageszeitung. Sie werde bis heute in arabischen Gefängnissen angewandt. Das eigentlich Empörende ist nicht die Folter – das eigentlich Empörende in muslimischen Augen ist, dass die Folterszenen dokumentiert und veröffentlicht wurden. Das ist die Demütigung. Die USA aber stehen vielleicht zum ersten Mal seit Beginn des Krieges fassungslos vor sich selbst.

Woher kommt diese völlig verschiedene Wahrnehmung?

Religiöse Demokraten, Menschen also, die heute Demokrat sind, wie man früher Mönch war, oder wenigstens Katholik, stürzen in eine Sinnkrise. Sollte das menschliche Substrat gänzlich unberührt geblieben sein von aller demokratischen Zähmung? Bleibt das Vieh in uns immer dasselbe? Sie rufen Freud zu Hilfe, einen der meistüberschätzten Autoren des 20. Jahrhunderts. Freud hatte das Unbehagen in der Kultur entdeckt und damit begründet, dass Kultur Triebverzicht bedeute. Das war eine gute Theorie für mittelständische Frauenschicksale am Ende des 19. Jahrhunderts, aber taugt sie für die Frau auf den Fotos von Abu Ghraib – für die einstige Hühnerschlächterin Lynndie England, die mit einundzwanzig schon eine Scheidung hinter sich hatte? Leiden unsere westlichen Spaßkulturen wirklich am Triebverzicht und war, was in Abu Ghraib geschah, denn eine Triebexplosion? In der arabischen Welt hätte schon im 19. Jahrhundert kein Mensch Freud verstanden. Jedenfalls kein Mann, was ja historisch und regional gesehen dasselbe ist. Wer vier Frauen haben darf, verzichtet nur auf eins: auf den Verzicht.

Nein, auf den Bildern aus Abu Ghraib entlädt sich kein Triebstau. Im Gegenteil. Hier sieht alles nach Regie aus. Und nach der Touristenerfahrung, was du nicht selbst fotografiert hast, hast du nicht erlebt. Es sind Touristenbilder aus dem Folterkeller.

Elias Canetti hat gesagt, dass es vermutlich schwerer wäre, einen einzigen Menschen zum Feuertod zu verurteilen als einen Weltkrieg zu entfesseln. Die westlichen Reaktionen auf Abu Ghraib scheinen das zu bestätigen. Wir haben es also vor allem mit einem Nähe- und Distanzproblem zu tun. Das Töten aus der Ferne halten wir aus. Der Absender des Todes und sein Empfänger dürfen einander nicht wahrnehmbar werden. Die Modernen töten abstrakt. Aber wenn ein Ich einem anderen Qual zufügt im öffentlichen Raum, geschieht das Verwerflichste überhaupt. Ist es diese Linie, die Lynndie England überschritten hat? Und sind wirklich die Reaktionen der muslimischen Welt das Rätsel oder nicht vielmehr wir?

Zu Heines Zeiten gab es noch Scharfrichter. Man mied sie, sprach nicht mit ihnen. Sie lebten auf „Freihöfen“, und ihre Familien heirateten nur unter sich. In Schenken bekamen sie andere Krüge, und manchmal warfen die Wirte die Becher, aus denen ein Scharfrichter getrunken hatte, hinterher weg. Die Hand, die anderen den Tod gibt, ist unrein. Darum hatte Amerika den elektrischen Stuhl und die Gaskammer in die Ökonomie des Todesurteils eingeführt. Die Distanz nimmt den Modernen die Hälfte des Schreckens. Aber sind das Verschmoren des Gehirns (elektrischer Stuhl) oder das Ersticken (Gaskammer) wirklich humaner als das Richtschwert?

Die Iraker wissen genau, was sie mit dem Krieg zu tun haben. Er spielt in ihrem eigenen Land, und sie gehören Gesellschaften an, die Männlichkeit noch durch Kriegstugenden definiert. Wir dagegen sind Bürger postheroischer Gesellschaften. Wenn andere strukturell Krieger sind, sind wir strukturell Zivilisten. Auch die Amerikaner. Und plötzlich kann das Collegefinanzierungsprojekt Army den Tod bedeuten. Auf diesen Stress ist keiner vorbereitet. Mit Überreaktionen jeder Art ist zu rechnen. Nur dass gerade die Gefängniswärter diesem Überlebensstress nicht unmittelbar ausgesetzt sind – sie reagieren als Stellvertreter. Wie können Menschen so grausam sein?, ist die falsche Frage. Ihr Sadismus ist der ganz normaler Leute. Seit Auschwitz weiß man, dass die größten Sadisten ganz normale Leute sind. Also vor allem kleine Leute. Geduckte Menschen, die plötzlich eine Gelegenheit bekommen, Macht spüren. Es ist nicht unbedingt ein charakterlicher Defekt, Macht spüren zu wollen. Macht ist ein anderes Wort für das überwältigende Gefühl, dass man lebt. Die Bilder aus Abu Ghraib sind lauter fotografierte Machtbeweise kleiner Leute.

Die zivilisatorischen Markierungen, die wir gewöhnlich nicht übertreten, reißen die Medien jeden Tag wieder ein. Das ist auch eine Kompensationsleistung, Tribut an unsere ursprünglichsten Instinkte. Und die moderne Massenkultur ist der systematische Rückbau aller Kultur auf das Instinkthafte. Die Rücknahme des Verfeinerungsprojekts Kultur. Aber noch wissen wir gemeinhin sehr gut zu unterscheiden, wo die Fiktion aufhört und wo die Wirklichkeit anfängt. In Kriegszeiten wird dieser Unterschied systematisch eingezogen. Keiner soll mehr wissen, wo die Wirklichkeit aufhört und die Fiktion anfängt. Schließlich begreift sich jeder Krieg als wirklichkeitsneuschöpfende Macht: Nichts wird mehr so sein wie vorher. Dass die USA ihren Krieg mit einer absoluten Nonsens- Rhetorik führen, ist oft bemerkt worden. Der Slogan „Krieg dem Terror“ ist vollkommen sinnfrei, schon weil der Terror kein Gegner, sondern eine Kampfform darstellt. Eine, die die Modernen zudem selbst erfunden haben. Heute erscheint der dritte Teil des Peter Sloterdijk’schen „Sphären“-Projekts. Er führt den Nachweis, dass moderne Kriege (die keinen militärisch ebenbürtigen Gegner mehr kennen) Staatsterrorismus sind.

Seit Auschwitz weiß man, dass die größten Sadisten ganz normale Leute sind

Der Krieg nähert uns der archaischen Wahrnehmung wieder an. Die einzelnen Feinde verschwinden im Gesamtfeind, und Amerikas Umgang mit den vermeintlichen Terroristen drückt das aus. „Das Böse“ ist von vornherein überindividuell. Das macht es suggestiv. Das ist genau der Punkt – man könnte ihn auch den Punkt der Heuchelei nennen –, wo das muslimische Unverständnis gegenüber unserem Folterverbot nahtlos anschließen darf. Denn dass der Einzelne nur zum Schein Einzelner ist, in Wirklichkeit aber Teil eines Gesamtkörpers, haben sie schon immer gewusst. Kein Mensch, weiß die archaische Logik, stammt von sich selbst ab, er ist immer schon Teil einer größeren Einheit. Und als Teil einer solchen Einheit – der Familie, der Religion – wird er anerkannt und geliebt; als Teil einer solchen Einheit – des Feindes, des Bösen – wird er manchmal auch gefoltert. Die korrekte Überschrift über solchen Szenen müsste lauten: ist nicht persönlich gemeint. Es geht nicht gegen dich. Es geht gegen die Substanz, dessen leider leidensfähiger Teil du bist.

Man muss noch eine psychisch tiefere Voraussetzung machen als die juristische der Menschenrechte, um zu verstehen, dass uns Gewaltanwendung gegen Einzelne im öffentlichen Raum ein Horror ist. Es ist eine quasireligiöse Voraussetzung. Unsere Hochachtung vor der Unversehrtheit des Körpers zeigt an, dass er uns heilig ist. Wir haben nichts anderes, jeder ist die Voraussetzung seiner eigenen Transzendenz. Alles ist persönlich. Und genau das können vormoderne Kulturen um den Preis ihrer Identität nicht zugeben.

Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin