debatte: die grundschulreform in nrw
: Ein Sparprogramm, als Reform getarnt

Wann endlich begreift die Landesregierung, dass wirksame Integration nicht zum Nulltarif zu haben ist?

Das Schulministerium will mit der verbindlichen Einführung der flexiblen Schuleingangsphase zum 1. 8. 2005 sicherstellen, dass alle Kinder eines Jahrgangs tatsächlich Grundschulkinder werden. Rückstellungen vom Schulbesuch sieht das neue Gesetz nur noch bei erheblichen gesundheitlichen Bedenken vor. In einem vor Ostern veröffentlichten Erlass des Ministeriums wird darüber hinaus geregelt, dass auch die Kinder, die nach heutiger Praxis von Anfang an bzw. in den ersten beiden Schuljahren zu den Sonderschulen für Lernbehinderte, für Erziehungshilfe und für Sprachbehinderte überwiesen werden, Grundschulkinder werden bzw. es bleiben.

Wer kann dagegen sein? Hat doch die PISA-Studie die Rückstellung als pädagogisch wenig produktive Sondermaßnahme des deutschen Schulsystems kritisch beleuchtet. Auch frühere Schullaufbahnuntersuchungen haben empirisch belegen können, dass Kinder, die zurückgestellt werden, später deutlich häufiger als andere von Klassenwiederholungen und Sonderschulüberweisungen betroffen sind. Alles spricht für die Integration von Kindern mit Problemen des Lernens, der Sprache und der emotionalen und sozialen Entwicklung. Schon vor der PISA-Studie hat sich in den Integrationsklassen der Grundschule gezeigt, dass die Heterogenität der Lerngruppe für lernschwache und lernstarke Schülerinnen und Schüler ein lernförderlicher Faktor ist.

Kritik und Protest gelten nicht den pädagogischen Zielvorstellungen, sondern der fehlenden konzeptionellen Unterstützung durch eine angemessene Personalausstattung. Nach dem Willen des Ministeriums werden die Unterschiede in den Lernausgangslagen der eingeschulten Kinder größer, aber die individuellen Förderressourcen an den Grundschulen wachsen nicht mit. Den neuen Aufgaben folgen nicht die entsprechenden Mittelzuweisungen, obwohl schon jetzt die Unterfinanzierung der deutschen Grundschulen im internationalen Vergleich ein Skandal ist.

Mit der Auflösung der Schulkindergärten für bislang zurückgestellte Kinder werden den 3.462 Grundschulen in NRW 655 Stellen des derzeitig an Schulkindergärten beschäftigten Personals zugeteilt. Es bedarf keiner großen Rechenkunst , um sich klarzumachen, dass das Personal einen “flexiblen“ Einsatzplan für mehrere Grundschulen bekommt. Dagegen wird es für die Kinder mit vermutetem oder tatsächlichem sonderpädagogischem Förderbedarf in den ersten Jahren nur die Förderung der Grundschule geben. Der Vorteil, dass Kinder nicht als behindert etikettiert und ausgesondert werden, wird mit dem Nachteil erkauft, dass frühzeitige präventive Förderung durch Sonderpädagogen eingespart wird.

Das als Reform getarnte Sparprogramm wird nicht alle Grundschulstandorte überfordern. Es trifft vor allem die Grundschulen, die in ihrem Einzugsbereich aufgrund sozialer Problemlagen viele Kinder mit zusätzlichem Förderbedarf haben. Es trifft die Kinder, die dringend einen Nachteilsausgleich brauchen. Würde die jetzige Unterstufe der drei Sonderschulformen komplett dem Grundschulbereich zugeordnet, dann stünden den Grundschulen fast 5.000 Sonderschullehrer als Verstärkung der individuellen Förderung zur Verfügung. Was für ein Potenzial auf dem Wege zu einer integrativen und selektionsfreien Grundschule, wenn diese Lehrer dann auch noch nach Bedarf und nicht nach dem Prinzip „Gießkanne“ zum Einsatz kämen! Wann endlich begreift die Landesregierung, dass wirksame Integration nicht zum Nulltarif zu haben ist?