Monströser Pfiffikus

Premiere eines Theaterstücks mit den Verhör-Protokollen des „Totmachers“ Fritz Haarmann im Schnürschuhtheater. Das Kind im Massenmörder – oder „Der Vampir von Hannover“

Das Verhör findet am Tisch statt. Der Mörder Haarmann sitzt dem Psychiater Schultze gegenüber. Dahinter der wortlose Stenograph. Dazu ein Waschbecken an der Wand und ein Teetisch auf der Seite – das Bühnenbild im Schnürschuh-Theater setzt die Ästhetik für ein naturalistisches Kammerspiel.

Gegeben wird Der Totmacher, das Stück zum Fall Fritz Haarmann. Wie der gleichnamige Film von Romuald Karmakar basiert die Bühnenfassung auf den Verhör-Protokollen von 1924. Haarmann wurde wegen 24-fachen Mordes zum Tod verurteilt. In sexueller Erregung biss er Strichjungen die Halsschlagader auf, anschließend zerteilte er die Leichen. Aus dem Menschenfleisch machte er Sülze, Speck und Wurst. Reste entsorgte er in der Leine und im Klo.

Unter der Regie von Kurt Wobbe hat Uwe Seidel als Haarmann keine Ähnlichkeiten mit dem psychisch kranken Serienmörder, wie ihn Götz George in der Kinoversion verkörperte. In seinem Spiel dominierte die gespaltene Persönlichkeit: Hin und her geworfen zwischen Verachtung und Mitleid gegenüber den Opfern, berauscht von der eigenen Popularität, kindlich bewimmernd das eigene Trieb-Elend.

Bei Seidel hingegen: kein starrer Blick, keine Versprecher, kein animalisch virtuoses Ballett der Gefühle. Dieser Haarmann scheint gewieft. Er erzählt, gestikuliert, inszeniert sich selbst, buhlt um die Aufmerksamkeit des Gegenübers, indem er die Bestialität als etwas Alltägliches schildert. „Ich hab‘ die Jungs einfach abgemurkst, hingerichtet.“ Ein Monster? Symbol für die zeitlose Bedrohlichkeit des Bösen?

Seidels Jacke ist etwas zu weit, fällt wie ein buckliger Sack über die Schultern, die halblangen Haare sind schmierig und licht. Das erbärmliche Aussehen hat wenig vom „Vampir von Hannover“. Auch von geistiger Verwirrung keine Spur. Der Angeklagte bewegt sich durch den Verhandlungsraum, als wäre es sein Wohnzimmer. Gefühlsausbrüche hält er im Zaum. Streicht nur mal lustvoll mit dem Finger über die Fensterbank, umgreift gierig die Stuhllehne. Ansonsten bleibt er distanziert. Neben ihm wird der hagere Psychiater (Claus Franke) zum steifen Stichwortgeber, verweigert die unheimliche Nähe, die der Verhörende zu Götz Georges Haarmann entwickelt hatte.

Uwe Seidels Darstellung ist mehr Erzähltheater als Psychogramm. Das Motiv des Mörders bleibt unklar. Die desolaten Umstände der Nachkriegszeit werden nicht als Begründung herbeizitiert, Hitler & Konsorten nicht mitgedacht, keine Versuche zur Entmystifizierung des Verbrechens unternommen. Sehr ausführlich beschreibt Haarmann, wie er seinen Liebhabern die Schädelplatte auftrennt und ihre Finger absägt.

Die schrecklichsten Bilder entstehen im Kopf des Zuschauers. Aber nur selten geht die Inszenierung ins Mark. Die flapsige Art Haarmanns sorgt mit ironischen Brüchen dafür, dass der schwere Stoff leicht verdaulich bleibt und das Premierenpublikum sich prächtig amüsiert. Nur warum? Das vermittelt die Aufführung nicht. Kein eigenständig künstlerischer, nicht mal ein pädagogischer Ansatz ist zu erkennen – dafür eine handwerklich sehr ordentliche Kammerspiel-Inszenierung zu erleben. Axel Lerner/fis

Nächste Aufführungen: 14., 28. und 29. Mai