Hammerharter Skandal

Weil Sportdirektor Bremer zwei der besten deutschen Bahnradfahrer nicht mit zur WM nehmen will, droht dem Deutschland-Vierer das Scheitern. Selbst die Olympiaqualifikation könnte gefährdet sein

„Man riskiert,den deutschen Vierer der Lächerlichkeit preiszugeben“

AUS BERLIN FRANK KETTERER

Jens Lehmann hatte gehofft, die ganze Zeit. Und er hatte trainiert wie ein Berserker. Auf der Straße, auf der Bahn, auf der Rolle. Tag für Tag. Kilometer für Kilometer, tausende davon. Nur Mitte Mai hatte er sich zwei Wochen freigehalten und die Zeit nicht verplant mit harter Schinderei, Wettkampf oder Trainingslagern. Mitte Mai wollte Jens Lehmann nach Australien fliegen, wo vom 26. bis 30. Mai in Melbourne die Bahnradweltmeisterschaften übers hölzerne Oval gehen. Dort wollte Jens Lehmann hin, schließlich ist er, hoch dekoriert mit zwei Mal Gold bei Olympia sowie sechs Mal bei Weltmeisterschaften, einer der erfolgreichsten deutschen Bahnradfahrer aller Zeiten.

Jens Lehmann saß nicht im Flugzeug, als der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) und seine Athleten gestern abhoben Richtung Downunder. Und dass er entgegen all seiner Hoffnungen nun doch nicht dabei sein würde bei der WM, hatte er erst am Morgen des Vortags erfahren, am Telefon – und von der taz. Es war einen kurzen Moment ganz still am Hörer, dann, als der 36-Jährige sich wieder berappelt hatte, bemühte er sich, tapfer zu sein. „Das ist sicherlich eigenartig“, sagte Lehmann da – und wusste doch, dass es mehr ist als nur das, viel mehr. Vielleicht schob er deshalb später nach und sagte: „Wie das abläuft, das ist schon hammerhart.“

Es ist noch mehr: Es ist ein Skandal. Und in dessen Zentrum stehen längst nicht mehr die Sportler, die bei der WM letztes Jahr in Stuttgart in jene Revolte verstrickt waren, an deren Ende der Verband den Start seines Flaggschiffes, des Deutschland-Vierers, kurzfristig zurückzog, sondern die Verbandsspitze selbst, allen voran Sportdirektor Burckhard Bremer. Zwar setzte der BDR die zunächst verhängten Zweijahressperren für die als vermeintliche Drahtzieher der schwäbischen Revolution ausgemachten Fahrer Jens Lehmann und Daniel Becke im Januar aus, um sich, wie es BDR-Präsidentin Sylvia Schenk damals formulierte, endlich wieder „auf sportliche Erfolge konzentrieren zu können“, de facto aber behielten Lehmann und Becke ihren Status als Verbannte. Der in der Szene ohnehin nicht unumstrittene Sportdirektor, das ist in den zurückliegenden Wochen und Monaten mehr als deutlich geworden, präsentiert sich unvermindert uneinsichtig – und mindestens ebenso unversöhnlich.

Mehr noch: Um seine ganz offensichtlich auf persönlichen Animositäten beruhende sture Haltung aufrechterhalten zu können, scheint Bremer nicht davor zurückzuschrecken, den sportlichen Erfolg der deutschen Bahnradler zu riskieren, vornehmlich den des Vierers. Bremer beharrt zwar darauf, „die derzeit beste Mannschaft“ zur WM nach Australien geschickt zu haben, bei Insidern aber erntet er dafür nur ein müdes Lächeln. Ein Lächeln mit gutem Grund: Mit Becke und Lehmann fehlen zwei der drei Besten von der nationalen Olympiasichtung Mitte Februar in Frankfurt (Oder). Während der Leipziger Lehmann mehr oder weniger offen ausgebootet wurde, ging der BDR beim Erfurter Becke wenigstens einigermaßen subtil vor: Der Sieger der Frankfurter Sichtung wurde über seinen möglichen WM-Start auf der Bahn so lange im Ungewissen gelassen, bis sein Arbeitgeber, das spanische Straßenradprofi-Team „Illes Balears“, seinen Rennkalender festgelegt hatte – und sein WM-Start in Australien schon deshalb unmöglich geworden war. Beckes Rechtsanwalt Siegfried Fröhlich hatte dem Verband dies Mitte April schriftlich mitgeteilt, kurz darauf meldete der BDR Becke für die WM. „Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er bei der WM nicht fahren kann“, behauptet Burckhard Bremer. „Das entspricht nicht den Tatsachen“, entgegnet Beckes Rechtsanwalt Siegfried Fröhlich mit Hinweis auf sein Schriftstück. Die Taktik, die hinter der ganzen Aktion zu stecken scheint, beschreibt wiederum Becke selbst: „Es läuft alles darauf hinaus, dass die sagen können: Becke hat die WM abgesagt. Diese Schlagzeile hätten die gerne.“ Es wäre eine falsche Schlagzeile.

Während der Tage von Melbourne drohen dem BDR nun eher traurige Meldungen mit traurigen Überschriften. Da auch Robert Bartkos Start in der Mannschaft derzeit zumindest als fraglich gilt, könnte sogar die Olympiaqualifikation des Titelverteidigers auf dem Spiel stehen. Zur Erinnerung: Bei den Spielen in Sydney siegten Bartko, Lehmann, Becke und Guido Fulst in Weltrekordzeit. Bei den Weltcups in diesem Jahr kam das BDR-Quartett in unterschiedlicher Besetzung über einen vierten Platz nicht hinaus, im März in Mexiko wurde man gar nur Zehnter. „Man riskiert, den deutschen Vierer der Lächerlichkeit preiszugeben“, sagt Jens Lehmann. „Wir haben uns entschieden, die aus unserer Sicht leistungsfähigsten Fahrer an den Start zu bringen“, widerspricht Bremer, versehen mit dem Zusatz, dass die schnellsten nicht automatisch die leistungsstärksten sein müssten, gerade was die Mannschaft angehe. „Da muss es in der Gesamtheit stimmen“, so Bremer. Beim BDR hat man dafür den Begriff Teamfähigkeit eingeführt, unterschwellig mit dem Vorwurf verbunden, dass Lehmann genau diese nicht aufbringe.

Der Olympiasieger aus Leipzig reagiert darauf allergisch. „Ich habe mit dreißig verschiedenen Partnern im Vierer gewonnen. Es soll also keiner behaupten, dass ich nicht Vierer fahren kann oder nicht teamfähig bin“, entgegnet er. Jens Lehmann sagt auch: „Wenn es bei Olympia mit dem Vierer schief geht, sind nicht die Sportler schuld.“