Abwanderungsproblem

Heute erscheint der grundrenovierte „Tagesspiegel“, der für junge Leser interessanter sein soll,denn die laufen den Tageszeitungen weg – nicht weglaufen will Chefredakteur Giovanni di Lorenzo

AUS BERLIN STEFFEN GRIMBERG

Beim Tagesspiegel herrscht Aufbruchstimmung. Nein, bitte keine Missverständnisse: Es geht nicht um die Abwanderung des Chefredakteurs zu einem großen Hamburger Wochenblatt. Giovanni di Lorenzo bleibt Berlins überregionalster Lokalzeitung erhalten, egal wer bei der Zeit mit den Hufen scharrt. Es gibt Wichtigeres: Ab heute sieht der Tagesspiegel anders aus.

Zu di Lorenzos Amtsantritt vor fünf Jahren war die Zeitungsbranche noch gesund, der Kampf um die Marktführerschaft in der Hauptstadt offen – und es stand lediglich eine „kleine optische Überarbeitung“ an. „Jetzt ist es eine Komplettrenovierung, weil wir auch an die Schrift rangegangen sind“, sagt di Lorenzo. „Die Redaktion arbeitet seit einem guten Jahr daran, und es sind alle beteiligt.“ Die Branche steckt mittlerweile in einer ausgemachten Krise – der Kampf um die Hauptstadt ist weiter offen.

Deshalb auch der Relaunch: „Wie machen wir eine attraktivere Zeitung bei sinkenden Ressourcen? Als Reaktion auf die Krise, auf sinkende Umfänge“, umreißt di Lorenzo das Problem: „Dabei haben wir uns immer wieder die Frage gestellt: Was ist wirklich wichtig – und was lassen wir weg?“

Auf der „Mehr“-Seite steht eindeutig der Service: täglich eine Seite aus verschiedenen Alltagsbereichen von Gesundheit bis Schule. Dazu eine neue Seite 2 mit den „Fragen des Tages“, die aber nicht Lexikon sein soll, sondern eher „die Sendung mit der Maus für Erwachsene“. Einige verstreute Kolumnen hat es dagegen erwischt, als Entschädigung gibt es aber eine auf der Titelseite: „Wir haben uns fünf Jahre nicht da rangetraut. Jetzt glauben wir, dass wir es schaffen.“

„Orientierung für den Leser“ ist das eine Schlagwort der Blattreform. „Verführung zum Lesen“ das andere. Vor allem für junge Menschen: „Wer bin ich?“, fragt der Tagesspiegel, zur Beantwortung gibt es jetzt freitags eine Jugendseite. Für eine Tageszeitung ist das viel – und wenig. Eine tägliche junge Seite wäre dann doch zu revolutionär: „Hier stoßen wir an Grenzen: Bei 28 Seiten Regelumfang ist mehr im Moment nicht drin. Sollte ‚Wer bin ich‘ wirklich einschlagen, ist das eine so kostbare Zielgruppe, dass man über tägliches Erscheinen nachdenken sollte“, so di Lorenzo.

Viel kosten durfte der – zumindest optisch durchaus gelungene – Relaunch beim schon vor der Krise chronisch defizitären Tagesspiegel nicht. „Unsere Probleme sind nicht behoben“, so di Lorenzo. „Was für mich außer Frage steht, ist das Engagement der Holtzbrinck-Familie für den Tagesspiegel. Und ich freue mich sehr, dass es jetzt um den Relaunch geht und Inhalte und unsere Zeitung. Und nicht um Verkauf, Einstellung – und meinen Liebling, den Herrn Böge.“ Der Chef des Bundeskartellamts ist im Hause Holtzbrinck, das die Berliner Zeitung so dringlich zur Rettung des Tagesspiegels kaufen möchte, wegen seines Mehrfach-Neins in dieser Sache nicht eben beliebt.

Ach, käme doch dieser Verbund, bei dem die Redaktio- nen beider Blätter nach Ver- lags-Versicherung erhalten blieben. Dann wären auch wieder schwarze Zahlen beim Tagesspiegel drin. Und aus der Hamburger Episode, wo das Blatt vor den jüngsten Bürgerschaftswahlen für fünf Wochen mit einer täglichen Sonderseite mitmischte, könnte ein erneuter Aufbruch in die Überregionalität werden: „Wenn es eine Perspektive zur Gesundung des Verlages gibt, fühlen sich Verleger auch wieder stärker herausgefordert, so was zu versuchen. Wir haben nur gute Erfahrungen gemacht mit diesem Experiment, das meiner Meinung nach zukunftsträchtig ist“, sagt der Chefredakteur. Und seine Zukunft? „Die Kollegen, die meine vermeintlichen Abwanderungsgelüste so treu begleiten, werden feststellen, dass ich am Ende dem Tagesspiegel treu bleiben werde.“