132 Dezibel im Orchestergraben

betr.: „Die fleißigen Streicher“, taz vom 6. 5. 04

Als Orchestermusiker und taz-Abonnent ist es traurig anzusehen, wie die taz mitschwimmt auf der undifferenzierten und diffamierenden Welle in der deutschen Presselandschaft gegen meinen Berufsstand. Statt eines gut recherchierten Artikels über die verschiedenen Situationen in den verschiedenen Orchestern und über spezielle Arbeitsbedingungen verschiedener Orchestermusiker erscheint ein tendenziöser Artikel voller suggestiver Andeutungen und pauschaler Vorurteile, der außerdem von kompletter Unkenntnis zeugt.

Wissen Sie, dass ein Orchestermusiker keine Regelarbeitszeit hat? Überstunden gibt es nicht. Es gibt nur eine Höchstarbeitszeit. Diese Höchstarbeitszeit ist so hoch gesetzt, dass jedes Orchester oder Theater, das versucht, diese Grenze voll auszuschöpfen, mit einem sprunghaft ansteigenden Krankheitsstand aufgrund von physischen Überbelastungen zu tun hat. Versuchen Sie eine Berufsunfähigkeitsversicherung für einen Orchestermusiker abzuschließen, die länger als bis zum 55. Lebensjahr greift! Aussichtslos.

Wissen Sie, dass wir als Orchestermusiker keine Zuschläge für Spätschichten oder Wochenendarbeit haben? Wissen Sie, dass wir eine Sechs-Tage-Woche haben? Wissen Sie, dass wir keinen festen freien Tag haben? Es kann gut sein, dass in einer Woche der Montag frei ist und in der nächsten erst der Sonntag. Das heißt, wir müssen in so einem Fall zwölf Tage hintereinander arbeiten. Wissen Sie, dass wir, wenn wir eine Vorstellung aus Besetzungsgründen frei haben, immer in Bereitschaft sind? Das heißt, bis zu drei Stunden vor Beginn der Vorstellung müssen wir bereit sein einzuspringen.

Wenn ein Musiker den Orchestergraben während der Vorstellung verlässt, geschieht das immer mit Einverständnis des Dirigenten/der Dirigentin. Es ist auch im Sinne der Qualität der Musik. Draußen kann der Musiker nicht nur „rauchen, trinken oder auf die Toilette gehen“, sondern sich auf seinen nächsten Einsatz bestens vorbereiten. Im Graben kann er sich, nach einer Stunde Pause, natürlich nicht vor seinem nächsten Einsatz erneut einspielen. Das kann er prima im Stimmzimmer.

Es ist im Orchestergraben außerdem extrem laut. Wir haben in einem wissenschaftlichen Gutachten bei den Blechbläsern in der Vorstellung Turandot (Puccini) im Durchschnitt 101,7 dB festgestellt. Die Spitzenbelastung lag bei 132 dB! Ein unnötiger Aufenthalt ist unter diesen Umständen nicht zu empfehlen und eine „Präsenzpflicht“, was damit auch in Ihrem Artikel gemeint sei, schon gar nicht.

Wenn man nach einer Woche mit zehn Proben und Aufführungen (zum Beispiel morgens Probe: Bergs Violinkonzert, abends Vorstellung: Zauberflöte; morgens Probe: 1. Satz Eroica, abends Vorstellung: Othello; morgens Probe: 2. + 3. Satz Eroica, abends Probe: Fidelio-Ouverture; morgens Probe: Berg, Beethoven, abends Carmen etc.) zwischendurch einen lustlosen Ton gespielt hat, ist das kaum etwas, das man dem einzelnen Musiker anlasten kann, sondern nur einer Theaterleitung, die bemüht ist, unsere „tariflichen Verpflichtungen“ voll auszuschöpfen. JAN BERGSTRÖM, BremenOboist im Oldenburgischen Staatsorchester