Freier Fall

Das Verschwimmen von Realität und Wahn mittels soghafter Sprache erfahrbar gemacht: Katharina Höcker stellt am Freitag im Lichtmeß ihr Buch „In einem Mietshauskörper“ vor

„Trotzdem war sie, wie sie später betonen sollte, nicht wirklich krank, sondern lediglich in höchster Gefahr, es zu werden.“ So schätzt Wilma ihre Lage ein, die Protagonistin in Katharina Höckers Buch In einem Mietshauskörper, das die Autorin jetzt im Lichtmeß vorstellen wird. Doch Wilmas Wirklichkeit ist ein bodenloser Abgrund, und ihre Bewegung in der Welt ist der freie Fall. Nach der Scheidung zieht sie ein in den abgelegenen Wohnblock, den ihr Mann in einem als fürsorglich getarnten Akt für sie ausgesucht hat; nach ganz oben, ins Augengeschoss.

Man schlägt die erste Seite des schmalen Buches auf und ist sofort im Bann einer irritierenden, getriebenen Sprache. Ihr folgt man und so Wilmas von Ekel erfüllten Gang durchs Treppenhaus: durch Geschlecht, Gedärm und Brustraum dieses Gerüche und Geräusche absondernden Mietshauskörpers. Dies ist ein schauriger, öder Ort, dies ist ein normaler Ort – für Wilma wird er zur Bedrohung. Sie fühlt sich beobachtet von unsichtbaren Nachbarn, welche die Urheber des zunehmenden Lärms, des penetranten Gestanks sein müssen, ja es muss sich um gegen sie gerichtete Aktionen handeln. Sie verlässt ihre Wohnung nur noch im Notfall. Sie schreibt Beschwerdebriefe; sie isoliert die Räume gegen Geräusche, geht gegen gefährlichen, infizierenden Schmutz mit Putzattacken an. Sie wähnt sich in Todesgefahr. Sie ist unter Mördern und Irren.

Die erzählten Geschehnisse entfalten ihr Unheimliches durch die sogartige Sprache Höckers, die den Leser in Wilmas hermetische Welt mitnimmt. Eine Welt, in der sich alle Halt gebenden Grenzen zunehmend auflösen. Das Reale und der Wahn sind nicht mehr zu scheiden. Denn der Wahn gibt sich vollkommen real, er ist die Wirklichkeit Wilmas, der das Reale als Krankheit der anderen erscheinen muss.

Auch in ihrer Arbeit als Drehbuchautorin geht die Hamburgerin der Abgründigkeit nach, die in der unauflöslichen Verbindung von so genannter Normalität und Verrücktheit liegt. In einem Drehbuch ist es die Figur der Kommissarin Karla, deren Selbst sich auflöst oder vielmehr verdoppelt; die auf der Suche nach einem Kindsmörder schließlich sich selber jagt.

Im vorliegenden Buch ging es Höcker darum, „das volle Ausmaß psychotischen Sprechens auszuloten“, was gelungen ist: das Sprechen Wilmas als Selbstbeschwörung, eine Sprache, die den Wahnsinn bezwingen will und die in ihrer verdichtenden Zuspitzung, im Kreisen der Sätze, sein allmähliches Heraufdringen beeindruckend schildert. Am Ende kann den freien Fall Wilmas aus der Welt nichts mehr aufhalten. CAROLA EBELING

Katharina Höcker: In einem Mietshauskörper. Mit Zeichnungen von Sabine Wilharm. Achilla Press, Hamburg 2003, 90 S., 18 Euro.Präsentation: Freitag, 27.6., 19 Uhr, Lichtmeß (Gaußstr. 25)