Rau liest Eliten die Leviten

In seiner letzten Grundsatzrede findet der Bundespräsident scharfe Worte – ökonomische Kräfte würden „die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit“. Zum Abschied wünscht sich Rau mehr Gestaltungswillen der Politik

AUS BERLIN BETTINA GAUS

In seiner letzten „Berliner Rede“, einer alljährlichen Ansprache zu Grundsatzfragen, hat der scheidende Bundespräsident Johannes Rau eine Vertrauenskrise in Deutschland konstatiert und vor einer inneren „Auswanderung aus unserer Demokratie“ gewarnt. Verunsicherung sei „so etwas wie ein allgegenwärtiges Gefühl geworden, das unsere gesamte Gesellschaft erfasst. Das ist lebensgefährlich.“ Für den Vertrauensverlust, so Rau, gebe es „handfeste Gründe“: In Teilen der so genannten Eliten herrschten „Egoismus, Gier und Anspruchsmentalität“.

Das Staatsoberhaupt fand deutliche Worte: „Wir müssen zum Beispiel erleben, dass einige, die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen, ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften. Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verloren gegangen zu sein.“ Es schwäche auch „das Vertrauen in die Institutionen selber, wenn deren Repräsentanten offenbar alle Maßstäbe verloren haben“. In den Debatten über Reformen werde allzu oft das Gemeinwohl vorgeschoben, „wo es um nichts als Gruppenegoismus, um Verbandsinteressen oder gar um erpresserische Lobbyarbeit geht“.

Als besonders zerstörerisch für das Vertrauen bezeichnete Rau die „offenbar anhaltende Wirkungslosigkeit all dessen, was die Arbeitslosigkeit beseitigen soll“. Es sei ein Irrtum, zu glauben, dass man Menschen zu besserer oder mehr Leistung motivieren könne, wenn sie ständig Angst haben müssten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder im Alter in Not zu geraten. „Jeder Mensch braucht eine gewisse Grundsicherheit, damit er den Kopf frei hat, auch für Anstrengung und Erfolg im Beruf.“ An anderer Stelle hieß es: „Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.“

Sehr viel schärfer lässt sich Kritik an neoliberalen Positionen und am Fehlverhalten von Vertretern von Wirtschaft und Politik kaum formulieren. Ein Blick ins Publikum, in dem viele Angehörige der so genannten Eliten saßen, rief allerdings Zweifel daran wach, dass die Botschaft die Adressaten erreicht hatte: Weitgehend regungslos saßen die meisten Zuhörer im Saal des Schlosses Bellevue, ihre Mienen spiegelten weder Zustimmung noch Ablehnung. Das mag damit zusammenhängen, dass der Ton des Vortrags manchmal etwas monoton und immer sanfter als der Inhalt war.

Es fehlte in der Rede nicht an unmissverständlichen Warnungen: Noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte, so Rau, hätten so wenig Menschen Vertrauen in die Politik einer Regierung gehabt – und noch nie hätten gleichzeitig so wenige geglaubt, die Opposition könne es besser. „Kein demokratischer Staat hält es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des ‚Wir da unten, die da oben‘ festsetzt.“ In der letzten Grundsatzrede seiner Amtszeit, die unter der Überschrift „Vertrauen in Deutschland – eine Ermutigung“ stand, forderte Rau nachdrücklich, es müsse in der Politik deutlich werden, dass es noch Zukunftsentwürfe und den nötigen Gestaltungswillen gebe. „Wir müssen den Primat der Politik wiedergewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren. Politik muss wieder zeigen, dass es sie gibt und dass sie etwas für die Menschen bewirken kann.“

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