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Chaos und Ordnung gehen Hand in Hand

Auswahl und Akkumulation: „If one thing matters, everything matters“. Wolfgang Tillmans’ große Einzelausstellung in der Tate Britain in London

von HANA GOODHART

Dass Wolfgang Tillmans’ Fotos aussehen, als seien sie ganz mühelos entstanden, im Vorbeigehen aufgenommen, ist schon oft bemerkt worden. Die Motive sind meist alltäglich: eine Jeans, die über einer Heizung trocknet, Blumen in einer Wasserflasche aus Plastik, ein Frühstückstisch nach Beendigung des Frühstücks, der Schauplatz einer Party am Morgen danach. Knalleffekte und Pointen in seiner Arbeit sind rar. Tillmans sieht hin, wo andere wegsehen, und bemerkt das Übersehbare. Erst bei der Besichtigung seines Gesamtwerks wird deutlich, wie sehr in der scheinbaren Zufälligkeit seiner Wahrnehmung Methode liegt. Gelegenheit dazu bietet jetzt eine Ausstellung in der Londoner Tate Britain.

Es ist Tillmans’ erste Einzelausstellung in einem Museum in England, und sie wird von einem monumentalen Fotobuch begleitet, das in seiner Anlage über einen Katalog weit hinausgeht. In geradezu tabellarischer Form zeigt der Band mehr als 2.300 Aufnahmen im Format einer Streichholzschachtel. Sie stammen aus den Jahren 1978 bis 2003, es handle sich um alle die Fotos, die für ihn eine Bedeutung haben, wie Tillmans im Gespräch mit der Kuratorin Mary Horlock sagt. Doch nur einen Bruchteil davon erklärt er zu „pieces“, Kunstwerken. Die schiere Anzahl der Katalogfotos erscheint megalomanisch, ihre Größe dagegen bescheiden. Zeigt der Katalog den „ganzen“ Tillmans, seinen Werdegang mit Schwächen und Stärken, so ist die – mit rund 300 Arbeiten immer noch umfangreiche – Ausstellung als eine maßgeblich von ihm selbst getroffene Best-of-Auswahl zu verstehen. Die Ausstellung vermittelt einen Begriff von Tillmans nicht-narrativer Ästhetik, es geht ihm ums Sehen des Einzelnen, Besonderen, nicht ums Erzählen. Beim Blättern im Katalog hingegen treten die Bilder miteinander in Kommunikation; nicht das Einzelbild erzählt, ihre Gesamtheit aber sehr wohl.

Besitzt der Katalog eine strenge äußere Systematik – die Formate sind ähnlich, und die Ordnung ist chronologisch –, so spiegelt die Ausstellung den scheinbar improvisatorischen Charakter der Mehrzahl seiner Aufnahmen wider. Die Fotos sind, mit wenigen Ausnahmen, rahmenlos. Viele wurden mit Klebestreifen direkt an der Wand befestigt, andere mit an Nägeln aufgehängten Pin Clips. Typisch für Tillmans ist auch die Anordnung der Bilder in – von weitem betrachtet – unregelmäßigen geometrischen Mustern und sehr unterschiedlichen Formaten. Indem er in der Ausstellung Fotos, Digitalabzüge und Zeitungsseiten sowie Film- und Videoaufnahmen in gleicher Weise verwendet, verbindet er verschiedene Bereiche heutiger Bildkultur.

Die streng formalisierte Anordnung des nicht enden wollenden Bilderstroms im Katalog und die sorgfältig hergestellte Formlosigkeit der Präsentation in der Ausstellung sind zwei Seiten einer Medaille: Chaos und Ordnung, Auswahl und Akkumulation gehen Hand in Hand. Dahinter scheint immer die Frage nach der Wertigkeit der Objekte und Bilder und vielleicht des Gesehenen selbst zu stehen, die ja auch der Ausstellungstitel andeutet: „If one thing matters, everything matters“. Dieses utopische Motto macht Tillmans’ Kunst ausgesprochen unautoritär und unelitär – sofern Kunst das sein kann. Sie ist auf den ersten Blick, auch bedingt durch das Alltagsmedium Fotografie, jedermann zugänglich; was aber keinen Mangel an Kompliziertheit auf den zweiten oder dritten Blick bedeutet.

Diese Kompliziertheit liegt wiederum oft weniger in einzelnen Bildern als in der Zusammenschau mehrerer seiner Arbeiten. Da sind die Stillleben mit Früchten, die banalen, vielleicht so vorgefundenen oder auch so angeordneten Alltagsgegenstände, ein U-Bahn-Sitz oder die verregnete, von einem Scheibenwischer polierte Windschutzscheibe eines Autos. Überraschend und fast untypisch dagegen wirken Tillmans’ stilisierte, „hochglanzpolierte“ Aufnahmen von Goldbarren oder seine abstrakten, in der Dunkelkammer entstandenen Arbeiten aus jüngster Zeit: Überwiegend monochrome Farbflächen werden durch Striche, Punkte oder Wischlinien durchbrochen. Seine Aufnahmen von Partys, schwitzenden Tänzern, Menschen auf Hochtouren (oder bei außergewöhnlichen Beschäftigungen, wie auf dem berühmten Foto des halb nackten Mannes, der auf einen Bürostuhl uriniert) sind in einer Weise laut, die sich wiederum den meditativen Detailbetrachtungen des Alltags und den abstrakten Bildern zu widersetzen scheinen: Tillmans versucht erst gar nicht, die Widersprüche in dem, was er sieht und wie er es sieht, zu glätten. Dass er sie gelten lässt, macht die Vitalität seiner Arbeiten aus.

Bis 14. September, Katalog (Hatje Cantz) 44 €

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