Kanonen auf Spatzen-Terrornest

Mit gewaltigem Aufwand jagt die russische Polizei Terroristen, die es gar nicht gibt

MOSKAU taz ■ In einer groß angelegten und medienwirksam inszenierten Aktion sind den russischen Sicherheitskräften im Juni gleich 55 mutmaßliche militante Islamisten ins Netz gegangen. Nach Angaben des Inlandsgeheimdienstes FSB gehören die Festgenommenen der Hisb al-Tahrir an, einer geheimen und militanten islamistischen Organisation, die in Zentralasien und Russland verboten ist.

Der Geheimdienst hatte guten Grund, den Fang als größten Erfolg seit Russlands Beitritt zur Anti-Terror-Koalition nach dem 11. September zu feiern. Das konspirative Nest der vermeintlichen Terroristen war eine Bäckerei in Moskau, wo hauptsächlich illegale Emigranten aus Mittelasien beschäftigt waren.

Die Menschenrechtsgruppe „Memorial“ ermittelte unterdessen, dass „die Festnahme von 55 bewaffneten Terroristen nie stattgefunden hat“. Der für Zentralasien zuständige Mitarbeiter, Witali Ponomarow, meinte vielmehr: „Die Überprüfung des Materials zeigt, dass die Information des FSB nicht wahr ist.“

Von den 55 mutmaßlichenTerroristen wurden nur acht inhaftiert, zwei befinden sich gegenwärtig noch in Polizeigewahrsam: ein Kirgise, Alischer Musajew, und ein Tadschike, Akram Dschalolow. Beiden wird illegaler Besitz von Sprengstoff zur Last gelegt.

Unter den Betten der Verdächtigen will der Geheimdienst auch Propagandamaterial der Hisb al-Tahrir gefunden haben, zu der die Angeklagten aber angeblich keinen Kontakt unterhalten. Dass die Ermittler das Beweismaterial in Abwesenheit der Inhaftierten und erst nachdem ihnen die Schlafplätze gezeigt worden waren, unter den Betten entdeckten, erhöht nicht gerade die Glaubwürdigkeit der Anklage. Zumal bei dem Fund überhaupt keine Zeugen zugegen waren.

Die Inhaftierten behaupten denn auch, das belastende Material sei ihnen untergeschoben worden. Erst Anfang dieser Woche – in einer ähnlich publikumswirksamen Aktion – hatte das Innenministerium einen Ring von Polizisten „auffliegen“ lassen, die unbescholtene Bürger mit falschem Beweismaterial um Millionen Dollar erpresst hatten. Sicherlich unbeabsichtigt lieferte das Innenministerium damit den Beleg, dass es sich dabei um eine durchaus übliche Praxis der Sicherheitsorgane handelt.

„Leute, die nicht in der Lage sind, uns vor wirklichem Terrorismus zu schützen, fabrizieren Fälle, um ihre Karriere zu beschleunigen“, meinte Ponomarow.

Auch das stimmt, es geht aber um mehr. Der Kreml will beweisen, dass er ein aktives Mitglied der Anti-Terror-Koalition und Russland ein wichtiges Aktionsfeld internationaler Terroristen ist. Je überzeugender der Kreml dieses inszeniert, desto zurückhaltender kritisiert der Westen das Morden der russischen Armee in Tschetschenien.

KLAUS-HELGE DONATH