Zwei Minuten Folterfotos, drei Minuten Sodbrennen

Die US-amerikanische Gesellschaft brauchte eine Weile, bis der Schrecken über die Folterbilder aus dem Irak von den Augen über das Hirn in die Magengegend gerutscht war. Verdaut sind sie noch nicht. Aber selbst dieser Schock kann das Vertrauen in sich selbst nicht erschüttern

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Noch zwei, drei Tage nachdem im Fernsehen erstmals die Folterbilder gezeigt wurden, schien ihre Tragweite nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen zu sein. Da wurde beschwichtigt, verharmlost und relativiert. Obendrein begann die Baseball-Saison. Doch dann, als ob der Zorn erst auf Umwegen über Europa und die arabische Welt nach Amerika gelangen müsste wie ein Sturm, der mit zunehmend zurückgelegter Wegstrecke an Stärke gewinnt, erreichte das Land zumindest eine Ahnung des Ausmaßes.

Plötzlich war entrüstet von „Albtraum“, „Schande“ und „kollektiver Verantwortung“ die Rede, rang Amerika nach Antworten auf Fragen nach Moral, Schuld und Sühne. Amerika war auf einmal gezwungen, in den Spiegel zu blicken, und sah dort ein hässliches Gesicht. Das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die sich als weltweit „beste und erstrebenswerteste“ in jeglicher Hinsicht versteht, schien tief erschüttert.

Was die Lügen über irakische ABC-Waffen und Husseins direkte Verbindung zu Ussama Bin Laden nicht erreichten, lösten nun grinsende US-Soldaten aus, die vor nackten, gedemütigten Irakerleibern posierten: Eine schonungslose Reflexion über die Rolle der Supermacht in der Welt, über amerikanische Werte und moralische Autorität, wie sie vor und nach Kriegsbeginn nicht stattgefunden hatte.

Den stärksten Dämpfer erhielt das amerikanische Überlegenheitsgefühl. Die Washington Post-Kolumnistin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum wurde am deutlichsten. Sie schrieb ihren Landsleuten eine – Europäern vertraute – Weisheit ins kollektive Bewusstein: Nicht nur Deutsche und Russen konnten foltern, sondern jede Kultur, also auch die amerikanische, sei unter entsprechenden Bedingungen zu Grausamkeiten in der Lage.

So verwundert es nicht, dass sich Kommentatoren und Politiker streubten, gleichsam mit einer kollektiven Beschwörungsformel, die Missetaten von Abu Ghraib schlichtweg unmenschlich zu nennen, und sie stattdessen als „unamerikanisch“ bezeichneten. Keine andere Nation würde ein ähnliches Verhalten als etwa „unschwedisch“ oder auch „undeutsch“ bezeichnen. Amerikas Hybris wurde selten so deutlich wie in dieser semantischen Abwehrreaktion. Hier offenbarte sich klarer denn je die Unfähigkeit der Amerikaner, Ambivalenzen komplexer Wirklichkeiten auszuhalten. Hier gibt es kein „und“, sondern nur ein „entweder oder“: gut oder böse, wir oder nicht wir. Und entpuppt sich dennoch einer von uns als Folterknecht, wird er sogleich als „unamerikanisch“ verstoßen.

Da Bilder aussagekräftiger sind als Worte, war die Schande nicht mehr zu leugnen. Die Armee traf es besonders hart. Die fahnengetränkte Bestattung gefallener GIs interessierte nicht mehr. Der Soldat als Folterer zerstörte die Idee vom helden- und tugendhaften Kämpfer, der dank seiner Staatsangehörigkeit nur Gutes bringt. Kein gutes Omen in einer Zeit, in der immer mehr Soldaten Fahnenflucht begehen. Der Irakkrieg hat viele potenzielle Soldaten vergrault. Das Leben ist ihnen dann doch lieber als eine College-Finanzierung, für die man einige Monate in Bagdad oder Falludscha als Zielscheibe dient. Mit der Folge, dass die seit längerem schwelende Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht beschleunigt wird, denn ein Imperium lässt sich nur mit einer entsprechenden Streitmacht halten. Zudem wurde der Blick auf die Struktur der Berufs- und Reservistenarmee gelenkt und förderte unangenehme Erkenntnisse zutage.

Die US-Armee ist eine Unterschichten-Armee: ein Sammelbecken von Habenichtsen, Gestrandeten, Ungebildeten und armen Einwanderern. Abu Ghraib ist auch möglich geworden, weil arbeitslose Pizzaverkäufer und Gefängnisaufseher (für die Erniedrigung von Häftlingen zu Hause zum Alltag gehört), mit einem einfachen moralischen Gerüst, ohne jede kulturelle Kenntnis der ihnen anvertrauten Häftlinge, ohne adäquate Vorbereitung auf ihren Einsatz, leicht zu manipulieren, auf Iraker losgelassen wurden. So erschrocken über sich selbst, da die Peiniger aus der eigenen Mitte, aus behüteten Kleinstädten in West Virginia und Pennsylvania kamen, hinterfragte das Volk den Krieg stärker denn je. Eine, wenn auch schwache, Mehrheit findet ihn mittlerweile sogar falsch.

Dennoch bleibt die Stimmung insgesamt seltsam verhalten. Sie hat sich gegenüber der Regierung, die ihnen diesen Krieg eingebrockt hat, nicht dramatisch gewandelt. Bush-Freunde sind etwas weniger enthusiastisch, aber loyal. Bush-Feinde sind noch feindseliger. Herausforderer John Kerry konnte bislang von all den Desastern nicht profitieren. Der Amtsinhaber würde, sollte morgen Wahl sein, wohl wieder gewählt werden.

Was muss noch passieren, fragen sich Beobachter von außen verzweifelt, damit Amerika nicht mehr still hält? Wann folgen auf zwei Minuten Folterfotos in den Abendnachrichten nicht mehr drei Minuten Werbung gegen Sodbrennen?

Es scheint, als gäbe es in diesem Land ein großes schwarzes Loch, das alle unbequemen, an der Substanz nagenden Botschaften, alle haarstreubenden Taten der Regierung verschluckt. Ein Amerikaner, ein Demokrat, erklärte das Phänomen jüngst so: „Ich habe einfach keine Kapazität mehr für Wut und Frust.“ Die Republikaner dagegen kann kaum etwas in ihrem Glauben an den Präsidenten erschüttern. Für sie ist Bush ein Werkzeug Gottes. Da hilft nur noch beten.

Solange das Volk demnach eine Regierung hat, die es verdient, verhält sie sich auch so. Dringender Handlungszwang besteht daher nicht im Weißen Haus. Bush, immer überzeugt, das Richtige zu tun, folgt nach dem Folterskandal dem Motto: Augen zu und durch. Sein Sendungsbewusstsein hat ihn mit jener glücklichen Zweifelsfreiheit ausgestattet, mit der er gar nicht auf die Idee käme, Verantwortung zu übernehmen. Er, der „gerufen“ worden sei, sich für das Amt des Präsidenten zu bewerben, glaubt allen Ernstes, sein Pentagonchef mache „hervorragende Arbeit“ und die Nation schulde ihm Dank.

Handelte es sich um eine japanische Regierung, wäre sie – nach dem Kriegsbetrug, dem völligen Versagen im Irak und nun den Folter-Beweisen – bereits drei Mal zurückgetreten. Scham und Ehrfurcht vor dem Amt sind aber keine Eigenschaften von Bush und seinen Regierungsmitgliedern. Sie sind keine Ehrenmänner alter Schule mehr, die sich an die Werte, die sie predigen, auch gebunden fühlen. Sich nicht in der Rechenschaft weder des Parlaments noch des Wählers sehen.

Grenzen kennt sein gottgegebener Universalismus, der Freiheit und Demokratie als allgemeine Güter proklamiert, jedoch bei Gefangengenbehandlung und Menschenrechten: sie dürfen „situativ“ und „flexibel“ ausgelegt werden. Und siehe da, kaum ist die erste Aufregung über Abu Ghraib verflogen, beginnt das große Relativieren. Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet die Republikaner, die im Antiterrorkampf gerne die Fahne der moralischen Klarheit hochhalten, die Misshandlungen und Demütigungen irakischer Häftlinge allmählich in die Nähe von Kavaliersdelikten rücken. Der republikanische Senator James Imhofe, auch unterwegs „im Auftrag des Herrn“, hat kein Verständnis mehr für die Untersuchungen. Neben jedes Foto misshandelter Iraker sollten Bilder von Saddam Husseins Massengräbern gelegt werden, fordert er. Er sei die Empörung der Demokraten über die Empörung leid. Womit der traurige Skandal wieder dort angelangt ist, wo auch alle anderen vor ihm landeten: Im Sumpf des wütenden und wahltaktischen Parteiengezänks. Amerika scheint unfähig, selbst die Analyse einer schmerzlichen Zäsur ohne ideologische Schelte auszutragen.

Noch ist nicht abzusehen, ob die Folteraffäre, die manche bereits als „Wendepunkt“ in der Irakpolitik erkannt haben wollen, für eine nützliche Katharsis taugt. Auch nicht, ob diese durch die Videobilder der Enthauptung der amerikanischen Geisel Nicholas Berg im Irak forciert wird. Bislang haben die Selbstreinigungskräfte Amerikas immer noch funktioniert. Immerhin richten Robert Kagan und William Kristol, zwei einflussreiche konservative Intellektuelle und vehemente Kriegsbefürworter, in der aktuellen Ausgabe des Weekly Standard einen überparteilichen und pragmatischen Appell an die Bush-Regierung und kommen zu dem Schluss: „Sollte sie keinen dramatischen Richtungswechsel vornehmen, wird sie versagen.“ Das Bemerkenswerte: Dieser Aufsatz hätte von John F. Kerry nicht besser verfasst sein können.