Eintrittsbillett in die Gesellschaft

Die Geschichte eines Landes ist nicht mehr Eigentum einer ethnisch-nationalen Gruppe. Eine Studie von Viola Georgi

VON CLAUS LEGGEWIE

Zu den Besuchern des Holocaust-Mahnmals werden die Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“ zählen, genau wie jetzt schon bei anderen NS-Gedenkstätten. Vor diesem Hintergrund fragt sich, wie stark das Geschichtsbewusstsein jüngerer Deutscher ethnisch differenziert ist und ob Immigranten nicht nur in die heutige Lebenswelt, sondern auch in die Geschichte und Vergangenheit ihres Aufnahmelandes eingewandert sind.

Die bereits viel beachtete Untersuchung der Erziehungswissenschaftlerin Viola Georgi, der Interviews mit 15- bis 20-jährigen Migranten zu ihrem Geschichtsbewusstsein zugrunde liegen, arbeitet vier Typen heraus: Typ eins neigt zur Identifikation mit den verfolgten Juden, ein zweiter Typ reiht sich retrospektiv in die Verfolgungsgeschichte der eigenen Familie unter deutscher Besatzung ein.

Umgekehrt sucht ein dritter Typ die Chance zur Identifikation mit den Deutschen (und Tätern) und nimmt sie dabei, zum Teil emphatisch, in Schutz. Ein vierter Typ schließlich interpretiert den Holocaust als universale, die Nationen (wie Täter und Opfer) übergreifende Menschheitserfahrung und fühlt sich verpflichtet, eine Wiederholung an jedem Ort der Erde zu verhindern. Letzterer wird Teil einer moralischen Erinnerungsgemeinschaft, die bei den anderen vorherrschende Parameter der nationalen Schicksalsgemeinschaft überschreitet.

Auch wenn junge Migranten (genau wie ihre einheimischen Altersgenossen) die NS-Vergangenheit eher indifferent und desinteressiert betrachten dürften, ist die jüngere deutsche Geschichte für emotional und kognitiv stärker damit befasste Jugendliche ein „Kernthema der Verhandlung von Identität und Zugehörigkeit in der deutschen Einwanderungsgesellschaft“. Sie tendieren dazu, sich die deutsche Vergangenheit zu „leihen“, und zwar mit unterschiedlichen, für die Bewältigung der Gegenwart nützlichen Absichten.

Für die Beurteilung des Holocaust zählt weniger die historische Faktenlage als das Maß der Ausgrenzung, das jugendliche Einwanderer im Alltag erfahren. Doch auch unter negativen Vorzeichen wird die Aneignung der fremden Geschichte zum Vehikel der kulturellen Integration. Besonders aufschlussreich ist das Beispiel des jungen Deutschtürken, dem bei einem Besuch der Gedenkstätte im KZ Theresienstadt die Zugehörigkeit zum „Tätervolk“ klar wurde und der in Reaktion darauf „den Türken in [sich] vergessen“ habe.

Identifikation mit der deutschen Geschichte gilt offenbar als eine Art „Eintrittsbillett“ für die deutsche Gegenwartsgesellschaft. Deren „jüngste Vergangenheit“ ist allerdings nicht mehr das „Dritte Reich“, sondern die Bonner Republik, die, je nach persönlichem Erfahrungshintergrund, als Erfolgsgeschichte gedeutet wird. Und das hat politische Konsequenzen: So hat etwa der in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Schriftsteller Zafer Senocak kürzlich eine deutsche Außenpolitik gefordert, die vergangenheitsbedingte Hemmschuhe ablegt (taz vom 7./8. 2. 2004).

Nach langen methodischen Hinführungen, die deutliche Spuren einer akademischen Absicherung tragen, sind die von Georgi geführten Gespräche die erhellendsten Teile der Studie. Kritisch kann man einwenden, dass die Autorin Aussagen ihrer Gesprächspartner bisweilen etwas oberlehrerinnenhaft kommentiert und deren Aussagen auf kognitive Widersprüche absucht, als seien solche überraschend oder auf jugendliche Migranten beschränkt. Auch läuft ihre Argumentation am Ende zu stromlinienförmig auf die normativ erwünschte vierte Variante des entliehenen Geschichtsbewusstseins hinaus. Viola Georgi unterstreicht das auch noch dick mit einem „Plädoyer für eine historisch orientierte Menschenrechtsbildung“.

Damit verbundene Schwierigkeiten hat die Autorin jedoch umschifft, indem sie ein Thema weitgehend vermied: Welche Rolle spielt der Bezug auf die (ebenso „fremde“) Vergangenheit der eigenen ethnischen Gruppe und des (imaginären) Herkunftslandes, hier vor allem deren „dunkle Seiten“? Werden in einer allgemein genozidalen Perspektive „eigene“ Verbrechen – wie im türkischen Fall die Vertreibung von Armeniern, Griechen und Juden – im Lichte der nationalsozialistischen Vergangenheit interpretiert?

Die von Georgi im deutschen Sprachraum erstmals systematisch erarbeitete Problematik ist zentral für den Unterricht an Schulen und Universitäten sowie für die künftige Arbeit von Gedenkstätten und von daher Pflichtlektüre. Dass die „entliehene Erinnerung“ keine deutsche Spezialität ist, zeigt das Beispiel des Memorials für die Kämpfer im Warschauer Ghetto Beit Lochamei HaGetaot, das zwischen Haifa und Tel Aviv liegt. Dort haben auch junge israelische Araber Führungen übernommen, und es irritiert jüdische Gedenkstättenbesucher nicht wenig, dass Angehörige einer Gruppe, die viele pauschal als „Terroristen“ geißeln, ihnen eine besonders tragische Epoche der jüdischen Geschichte darlegen.

Aber das ist nur ein extremes Beispiel dafür, wie im transkulturellen Kontext Geschichte nicht mehr Eigentum einer ethnisch-nationalen Gruppe ist und folglich Geschichtsbewusstsein nicht mehr, wie es eine (auch kritische) Nationalerziehung seit Jahrhunderten behauptet, stets von der eigenen Gemeinschaft her entworfen wird.

Viola B. Georgi: „Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland“. Hamburger Edition, Hamburg 2003, 344 Seiten, 30 Euro