Hörprobe
: Sparsamer Einsatz von Pomade

Der Plattenhändler muss ganz schön blöd geguckt haben. Nachdem der picklige 14-Jährige, der ich damals war, das schmale Klassik-Repertoire inspiziert hat, schlendert er zum Tresen. Welche Mozart-Aufnahmen zu empfehlen seien? Nun, beeilt sich der Händler, da gebe es ja die schönen Schallplatten mit Herbert von … „Karajan?“, wird er unterbrochen (und das Folgende muss man sich so lässig vorstellen, wie es neben Harrison Ford nur 14-Jährige können): „Haben Sie nichts mit Schmidt-Isserstedt?“

Hatte er nicht, er kannte noch nicht mal den Namen. Woher auch? Hans Schmidt-Isserstedt, 1945 Gründer und bis 1971 Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, glänzte auf dem Tonträgermarkt nie mit besonderer Präsenz. Nur wer, wie der Musiklehrer des örtlichen Gymnasiums, die Beethoven-Sinfonien gleich in sechs verschiedenen Versionen im Regal hatte, besaß auch Schmidt-Isserstedts bis heute hörenswerte Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern. Und nur wer, als Teenager von den Ärzten zu Mozart konvertiert, ganze Nachmittage lang NDR 3 hörte, konnte ihn für einen weltberühmten Podiumsstar halten. Wer war schon Toscanini?

Bei der nun von NDR Kultur und der EMI herausgebrachten Edition mit Archivaufnahmen des NDR Sinfonieorchesters wird der langjährige Chef endlich gebührend gewürdigt. Auf sechs der zehn ersten CDs ist Schmidt- Isserstedt selbst vertreten. Und schon sein auf den Covern abgebildetes Gesicht, das auch einem freundlichen, mit Pomade recht sparsamen Filialleiter gehören könnte, vermittelt eine Ahnung davon, warum Hugh Carlton Greene von der britischen Verwaltung den gebürtigen Berliner 1945 damit beauftragte, dem damals noch als NWDR fungierenden Sender nach dem Vorbild der BBC ein Orchester aufzubauen. Weder ein Stromlinien-Technokrat wie Herbert von Karajan noch ein Heidegger‘scher Pultmystiker wie Wilhelm Furtwängler, war Schmidt-Isserstedt im Gegensatz zu den beiden anderen nie NSDAP-Mitglied gewesen und galt als politisch unverdächtig.

Über 100 Orchester leitete Schmidt-Isserstedt im Lauf seiner Karriere, aber dem Jet-Set heutiger Maestri war er abhold. Vier Jahrzehnte blieb er den NDR-Sinfonikern treu. Die sechs Aufnahmen mit Werken seiner Lieblingskomponisten Brahms, Mozart, Hindemith und Bartók dokumentieren die Kontinuität seiner Arbeit meist in Live-Einspielungen aus der Hamburger Musikhalle. Die Qualitäten seines Dirigats – es kommt wie die Frisur auf den Coverfotos ohne viel Pomade aus, der Klang ist schlank und transparent, die Tempi flott – zeigen sich am besten in den Aufnahmen von Mozart-Sinfonien. In dessen Klängen, so der Dirigent, wolle er sich „am Ende meines Lebens ganz auflösen“.

Christian Möller

Die ersten 10 CDs der NDR Archiv-Serie (Werke von Brahms, Mozart, Hindemith, Bartók, Mahler, Dvorák und Krenek) sind bei EMI Classics erschienen