: Zwei Lehrer, kein Gong
Sie sind Lehrer und trotzdem glücklich in ihrem Job. Noch. Obwohl sich Lutz Scobel und Judith Förner von der Lenau-Grundschule über gekürzte Lernmittel und Stellenstopp ärgern. Das Geheimnis: Ihre Schule lässt ihnen Freiräume. Spots von einem alltäglichen Tag der Bildung in Kreuzberg
von SUSANNE LANG
Etwas fehlt zwischen Kindergequassel und Stühlequietschen. Judith Förner klatscht in die Hände. „Zeit für das Wochenblatt“, ruft sie, und 24 Augenpaare schauen abrupt auf. „Los, wir gehen nach drüben zu unseren Plätzen“, sagt die Lehrerin, während 24 Beinpaare schon längst um sie herumwuseln. Stundenwechsel in der ersten Klasse der Lenauschule in Kreuzberg. Was fehlt: der Gong. Und eigentlich auch die Stunde, die wechselt: der 45-Minuten-Takt. Denn nach einer morgendlichen Runde im Stuhlkreis startet an diesem Montag erst um 11 Uhr das, was in anderen Klassen bereits um 8 Uhr mit Frontalmethode begonnen hat: der Unterricht.
24 quicklebendige Erstklässler, die Hälfte davon mit Migrationshintergrund. 24 Kinder mitten in Kreuzberg, in einem Bezirk, in dem an vielen Schulen die Hälfte der Lehrer oft dauerhaft krankgeschrieben ist. Dazwischen die zierliche Judith Förner. Wie eine gestresste Lehrerin sieht die 40-Jährige trotzdem nicht aus. Wie eine Lehrerin, die am „Tag der Bildung“ aus Protest ihre Schule bestreiken würde, auch nicht. Sie steht vor der Tafel und lächelt in die Runde.
„Vor einem Jahr war ich mir nicht sicher, ob ich das noch 20 Jahre ohne Frust machen werde“, gesteht die ehemalige Unidozentin für Deutsch als Zweitsprache. „Ich war richtig erschöpft. Man ackert und rackert, hat aber im Verhältnis wenig Einfluss auf die Kinder.“ Vor einem Jahr hatte die Lehrerin in einer andern Klasse einen ganz gewöhnlichen Schulalltag: Unterricht am Vormittag, Nach- und Vorbereiten am Nachmittag. Ein Grund, warum sie heute lächelt, obwohl sie oft den Tag von acht Uhr morgens bis nachmittags mit ihrer Klasse verbringt, ist zum Beispiel der Gong, den es nun nicht mehr gibt.
„Integrierter Tagesplan“ nennt sich das Modellprojekt, das seit zehn Jahren an der Lenau-Schule läuft – jeweils in einer Klasse pro Jahrgang. Es hebt die klassische Trennung zwischen Unterricht am Vormittag und Freizeit am Nachmittag auf. Für die Lehrerin bedeutet dies, dass sie Lehrphasen freier gestalten kann. „Man arbeitet eng mit der Erzieherin zusammen und kann für die Kinder mehr bewirken“, erklärt Förner.
Und wie wichtig es ist, Zeit für die Kinder zu haben, hat sie in den letzten Wochen gemerkt. An der benachbarten Roseggerschule musste sie als Vertretung einspringen – der Klassenlehrer war erkrankt und fiel längerfristig aus. „Man merkt, dass die Kinder sprachlich und sozial nicht so weit sind“, sagt Förner. Was am Unterrichtsmodell liege, nicht an der Schule.
Während sich ihre Schüler gerade die Plätze suchen und Stifte auspacken, fällt auf, dass etwas anderes im Klassenzimmer eigentlich zu viel ist. „Langsam, jeder bekommt einen“, beschwichtigt Lutz Scobel die drei Jungs, die ihm Zettel aus der Hand reißen. Er ist im klassischen Schulsinn zu viel: ein zweiter Lehrer. Scobel sitzt an einem Schreibtisch am Fenster des Klassenraums und verteilt weiße Zettel. Papier für die Aufgabe namens „Wochenblatt“ – die Schüler sollen aufmalen und -schreiben, was sie am Wochenende erlebt haben. Und während der kleine Simon an seinem Hemd zupft, der kleine Barkant lieber an den PC mit den Lernspielen möchte, sieht auch Lutz Scobel ziemlich ungestresst aus. „Die Arbeit im Team erleichtert vieles“, erklärt der fast 40- Jährige. Einmal pro Woche treffen sich die beiden Lehrer und die Erzieherin, um den Arbeitsplan für die kommende Woche zu entwickeln und Probleme zu besprechen. Außerhalb der regulären, also bezahlten Unterrichtszeit.
Wie die beiden Lehrer so ganz entspannt ihren Unterricht halten, da könnte man fast meinen, sie wären gar nicht wirklich, sondern eine ideale Wunschzeichnung der Schulverwaltung: Arbeiten mehr, als sie müssten, machen dies mit Engagement und Motivation und haben Spaß daran. Lutz Scobel schüttelt den Kopf und überlegt lange nach einer passenden Erklärung dafür. „Die Qualität und der Spaß an der Arbeit steigt mit der Möglichkeit, selbst Einfluss zu nehmen auf das, was man tut“, sagt er schließlich.
Doch diese Möglichkeit sieht Scobel immer mehr schwinden. „Je mehr reglementiert wird – und das macht der Senat zunehmend – um so mehr sinkt die Motivation.“ Daher hat der Lehrer vollstes Verständnis für die Kollegen, die heute streiken. Auch wenn es nicht erlaubt ist.
Reglementieren – das sieht die Schulverwaltung ganz anders. Mit dem neuen Schulgesetz sollen die Freiheiten an den Schulen zunehmen: die Möglichkeit, ein eigenes Profil zu entwickeln und Schwerpunkte zu setzen. Scobel winkt ab. „Faktisch alles Feigenblätter“, schimpft der Lehrer. Er fühlt sich zunehmend kontrolliert. „Bärenstark“ und all die anderen neuen Tests ärgern ihn. Auch wenn er Qualitätserhebungen grundsätzlich nicht ablehnt. „Für uns bedeutet das Mehrarbeit, für die uns die Zeit aber nicht zugestanden wird.“
Bevor sich Scobel richtig ärgern kann, zupft wieder ein Kleiner an seinem Hemd. „Lutz, ich habe Hunger!“ Es ist kurz nach 12 Uhr, Zeit für die Schulmensa. Und an diesem Montag Zeit für die erste Improvisation. Die Erzieherin ist noch nicht gekommen, um die Schüler abzuholen. Krank. Natürlich gibt es auch das an der Lenauschule. Sie hat nur Glück, dass meistens mehr Lehrer und Erzieher gesund sind als krank. Wie lange noch, ist die Frage. Die beiden Lehrer begleiten kurzerhand ihre Kids selbst in die Mensa.
Auf dem Weg durch den bunt bemalten Flur, treffen sie einen dritten Grund, warum das Frustpotenzial an der Lenauschule relativ gering ist. Schulleiterin Karolin Klawuhn hat ebenfalls Mittagspause und geht in Richtung Essensausgabe. Ein freundliches Lächeln, ein kurzes Hallo zu den Kollegen.
Wenn man beide Seiten später über das Klima an der Schule schwärmen hört, könnte man wieder glauben, dass die Lenauschule ein kleines Paradies im Herzen Kreuzbergs ist. „Das Kollegium ist toll“, findet Klawuhn. „Engagiert und immer nach vorne orientiert.“ Vor allem dann, wenn die nächste Sparbotschaft eintrudle. „Sie machen ihrem Ärger Luft, suchen aber gleich nach einer Lösung.“
Jüngstes Beispiel: die Kürzung des Lernmitteletats. So gut es an der Schule läuft, Beschlüsse wie diese gefährden die Arbeit. Da hilft aller Wille zur Lösung manchmal nicht. Nachdem der Bezirk die Zuweisungen für Lernmittel gekürzt hat, da Eltern ab nächstem Schuljahr Bücher selber kaufen müssen, steht die Schule vor einem Problem. „Als ob moderner Grundschulunterricht mit Büchern arbeiten würde“, empört sich Klawuhn. „Ich weiß nicht, wo die Schulverwaltung lebt, aber das ist einfach nicht so.“
Wie es tatsächlich ist, zeigt der Blick in das Klassenzimmer: selbst angefertigte Arbeitsmappen auf Basis von Kopiervorlagen, Lernprogramme auf dem PC, Lernspiele. „Dann werden wir das Material demnächst wohl aus eigener Tasche bezahlen“, sagt Scobel. Selbst ein Elternfonds, in den jeder einzahlt, wäre rechtlich umstritten, da Eltern für alle Schüler zahlen würden und kein Eigentum an Lernmitteln erwerben könnten.
Ein bisschen Frust hat sich doch angestaut im Planeten Lenau – auch wenn er im Vergleich zu anderen Schulen gering ist. Zeit für einen Warnstreik? „Streik ist kein adäquates Mittel“, findet Förner, während die Schüler an den Nebentischen ihre Suppe löffeln. Damit könne das schlechte Bild der Lehrer in der Öffentlichkeit nicht verbessert werden. Eine schwer verdauliche Suppe, die sie tagtäglich auslöffeln muss: das Bild vom faulen, ständig Ferien feiernden Halbtagsjobler, der trotzdem nur jammert.
Wie lange wird es dauern, bis die beiden Grundschullehrer das Bild vom jammernden, gefrusteten Lehrer tatsächlich erfüllen? Lutz Scobel überlegt. „Solange Freiraum bleibt für die Entwicklung eigener Ideen, bin ich leidenschaftlich gerne Lehrer“, sagt er schließlich. Die Schlussfolgerung, dass es innerhalb des Berliner Schulsystems diese Freiräume anscheinend gebe, teilt er so nicht. „Die Freiräume hängen von der kollektiven Zusammenarbeit ab, wie man mit all den Vorschriften umgeht, die immer mehr werden.“
Während der Lehrer nach einem Beispiel sucht, zupft ihn wieder einmal eine kleine Hand am Hemd: „Du, Lutz, schau mal, ich bin fertig.“ Und der „Du Lutz“ schaut, krakelt seine Unterschrift unter Marlons Wochenblatt und zupft dann dem weglaufenden Stepke am Hemd. „Das heißt ‚wir‘ und ‚haben‘“, sagt er. „Nicht wia ham. Magst du das noch ausbessern!“ Marlon mag. Und der Tag der Bildung an der Lenauschule hat sich vielleicht doch gelohnt.