HIESIGE BILDUNGSPOLITIK: WOCHENTAGS TÄUSCHEN, SONNTAGS QUATSCHEN
: Gipfel der Verantwortungslosigkeit

Im Dezember 2001 gab es für die vermeintliche Dichter-und-Denker-Nation ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis namens Pisa. Jetzt, eineinhalb Jahre später, haben sich die deutschen Regierungschefs erstmals dazu bequemt, über die Legasthenie ihrer 15-Jährigen zu sprechen. Zeit für eine Bilanz: Welche Perspektiven für das marode Bildungswesen wurden entworfen? Keine, lautet die Antwort. Im Kanzleramt waren gestern Formalia Thema. Über die Sache, also über guten Unterricht oder die Chancen junger Menschen, an Gesellschaft und Arbeit teilzuhaben, verloren die Stoibers und Steinbrücks kein Wort. Der Regierungsgipfel im Kanzleramt war ein Gipfel der Verantwortungslosigkeit.

So ignorieren die Ministerpräsidenten und Bürgermeister die Tatsache, dass ein Viertel der 15-Jährigen nur sehr schlecht lesen kann. Die Reaktion der Politik ist diese: wochentags täuschen und hinhalten. Sonntags davon quatschen, dass Bildung die Zukunft des Landes sei. Setzen, sechs, vorrücken unmöglich! Immerhin haben gestern diejenigen miteinander über Bildung verhandelt, die am meisten bewegen könnten. Nur wird davon weder ein Schüler klüger, eine Schule schöner, ein Lehrer motivierter noch ein Elternpaar hoffnungsvoller.

Die Regierungschefs versprachen einst, Schaden vom Volke abzuwenden und die Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland anzustreben. Diesen Eid haben sie gebrochen. Denn der gesellschaftliche Skandal, den Pisa aufdeckte, kümmert sie nicht. Pisa zeigte, erstens, dass die Schul- wie Lernerfolge hierzulande extrem sozial abhängig sind – mehr als in irgendeinem anderen der getesteten 32 Industriestaaten. Und dass, zweitens, die regionalen Lernunterschiede in diesem Land ungewöhnlich groß sind. Beides ist nicht hinnehmbar in einem Bundesstaat, der jedem überall gleiche Rechte einräumt. Die Ministerpräsidenten schert dieser Kernauftrag des Grundgesetzes nicht. Sie reden zwar gern über ihre Länder – aber vor allem darüber, wie sie als Provinzfürsten den Bundesstaat daran hindern können, seinen Job zu tun. Für dieses Fehlverhalten gibt es übrigens ein Wort: Amtsmissbrauch. CHRISTIAN FÜLLER