Zwei Tote bei der „Weinlese“

Vor zehn Jahren starben das RAF-Mitglied Wolfgang Grams und der Polizist Michael Newrzella auf dem Bahnhof Bad Kleinen. Innenminister Seiters und Bundesanwalt von Stahl traten zurück, doch der genaue Ablauf der Aktion ist bis heute ungeklärt

Die Bundesregierung erklärte den Fall mit dem Schlussbericht einfach für erledigt

von WOLFGANG GAST

Schon das Codewort verrät, dass die Ermittler endlich einmal einen Erfolg verkünden wollten. „Weinlese“ nennen sie den Einsatz, der sie nach den Jahren der erfolglosen Fahndung endlich einmal zur Festnahme von Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ führen soll.

Die Weinlese wird zum Desaster. Am 27. Juni 1993, heute vor zehn Jahren, kommt es auf dem Bahnhof im mecklenburgischen Bad Kleinen zu seinem Höhepunkt. Der Versuch, die RAF-Mitglieder Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld festzunehmen, mündet in eine wilde Schießerei. Am Ende sind der Polizeibeamte Michael Newrzella und das RAF-Mitglied Grams tot. Grams’ Gefährtin Hogefeld wird verhaftet.

Anfangs wird die tödliche Aktion noch als Erfolg der Terrorismusbekämpfer gefeiert. Das ändert sich schlagartig, als mit den Aussagen einer Kioskverkäuferin und eines anonymen Polizeibeamten ein Verdacht aufkommt: Als Grams bereits wehrlos auf den Gleisen lag, sei er von der Polizei aus nächster Nähe gezielt erschossen worden – womöglich aus Rache für den getöteten Kollegen Newrzella.

Die Medien recherchieren immer neue Pannen bei Vorbereitung und Ausführung des Einsatzes. Innenminister Rudolf Seiters tritt wenig später zurück. Und der oberste Terroristenjäger der Republik, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, muss seinen Hut nehmen. Leitende Beamte des Wiesbadener Bundeskriminalamtes ebenso.

Die Schießerei beschäftigt monatelang den Bundestag, den Bonner Innenausschuss und mehrere Staatsanwaltschaften. Pannen über Pannen zählt schließlich auch ein Schlussbericht der Bundesregierung zu Bad Kleinen auf. Nur der böse Verdacht, dass Beamte der Grenzschutzsondereinheit GSG 9 das RAF-Mitglied exekutiert haben könnten, wird nach und nach entsorgt. Trotz gegenteiliger Zeugenaussagen, trotz einer Vielzahl an Unstimmigkeiten, trotz widersprüchlicher Expertengutachten.

Der Freispruch für die unter Verdacht stehenden Elitebeamten erfolgt im Umkehrschluss. „Es gibt somit auch aus unserer Sicht keine neuen Erkenntnisse, die zwingend gegen eine Selbstbeibringung des Nahschusses durch Grams sprechen würden“: Mecklenburg-Vorpommerns damaliger Justizminister Herbert Helmrich (CDU) ist einer der Ersten, der auf Freispruch plädiert. Helmrich räumt zwar ein, dass es eine „lupenreine“ Rekonstruktion der Vorgänge nicht gibt. Aber der erste Schritt, den Verdacht zu beseitigen, ist getan.

Verdachtsentsorgung betreibt auch die Schweriner Staatsanwaltschaft, die das „Todesermittlungsverfahren“ führt. Die Todesumstände seien „widerspruchsfrei durch Selbstbeibringung“ zu erklären.

Folgt man der Lesart der Staatsanwälte und dem Tenor des regierungsamtlichen Schlussberichts, dann hat sich Grams’ Tod etwa wie folgt zugetragen: Beim Versuch der Festnahme im Fußgängertunnel des Bahnhofs flüchtet Grams die Treppe zum Bahnsteig hinauf. Innerhalb von fünf oder sechs Sekunden feuert er an die zehnmal mit seiner Pistole. Er erschießt den GSG-9-Beamten Newrzella, der ihm auf der Treppe in kurzer Distanz folgt. Ein weiterer Polizist wird von Grams angeschossen.

Alles geschieht im Laufen. Grams, der das obere Treppenende erreicht, wird dann durch einen Bauchschuss und vier weitere Treffer schwer verletzt. Er stürzt rücklings auf die Gleise, ohne seine Waffe zu verlieren. Angesichts seiner aussichtslosen Lage fasst er den Entschluss, sich zu erschießen. Grams tötet sich mit einem Schuss in die Schläfe.

Selbst gestandenen Terrorismusfahndern leuchtet ein solcher Ablauf nicht ein. Dass ein von einer Polizeikugel mit voller Wucht Getroffener noch in der Lage sein soll, in Sekundenfrist den eigenen Suizid zu beschließen und durchzuführen, das scheint den Polizeipraktikern ziemlich ausgeschlossen.

Widerspruchsfrei ist die These von der Ermordung Grams’ allerdings auch nicht. So stellt sich heraus, dass der vom Spiegel präsentierte, anonym gebliebene Beamte zeitgleich an mehreren Orten gewesen sein muss, wenn er die von ihm behaupteten Vorgänge selbst beobachtet haben will. Und die Aussage der Kioskbesitzerin soll ein Fernsehjournalist redigiert haben.

Umso wichtiger wäre es gewesen, die Vorgänge vor Gericht oder von einem Parlamentsausschuss klären zu lassen. Dazu kommt es aber nicht. Grams’ Eltern scheitern mit ihrem Versuch, eine Untersuchung gerichtlich zu erzwingen. Und die Bundesregierung erklärt den Fall trotz aller offenen Fragen mit Vorlage ihres „Abschlussberichtes“ für erledigt.