Amphibischer Exkurs

Der Reiz einer Kanuwanderung auf der alten Havel liegt im unmittelbaren Nahbereich, dem Wasser und dem Ufer. Und das hat es in sich

Naturbelassen mäandert die Havel mal als Wiesen-, mal als Dschungelfluss

von HARTMUT GRÄFENHAHN

Rückengymnastik ist angesagt. Ein Baum, gefällt von den Naturgewalten, liegt quer über der jungen Havel, die hier im Norden Brandenburgs nur wenige Meter breit ist. Fragen kommen auf: Wo kommt man am besten durch? Reicht die Höhe zwischen Baumstamm und Wasseroberfläche, um mit dem Kanu drunter durchzugleiten? Manchmal geht es um Zentimeter. Zentimeter, die darüber entscheiden, ob die Kanuten mit einigen Verrenkungen unter dem Baumstamm hindurch weiterkommen oder ob unangenehmerweise das Wassergefährt um das Hindernis drum herum getragen werden muss. Glück gehabt, es reicht. Diesmal jedenfalls.

Über dreitausend Seen sprenkeln die Landkarte Brandenburgs. Hinzu kommen große Flüsse wie die Elbe, die Oder und der Hauptstadtfluss Spree. Der zweite Fluss, der Berlin durchfließt, ist die Havel. Hier, im nördlichen Brandenburg, kann wahrlich noch nicht von einem Hauptstadtfluss geredet werden. Absolut naturbelassen mäandert das Gewässer durch die Ruppiner Schweiz und das Oberhavelland, mal als Wiesenfluss, mal als Dschungelfluss durch den märkischen Wald. Zum Glück der Kanuten ist die Havel an dieser Stelle für den Motorbootverkehr unpassierbar, absolut unpassierbar. Dies liegt an der geringen Wassertiefe, dem Reichtum an Wasserpflanzen – in den Kanuführern wenig charmant als „Verkrautung“ bezeichnet – und den eingangs erwähnten Baumstämmen, die wie mehr oder weniger hohe Naturbrücken quer über dem Fließ liegen.

Schon die Anfahrt zur Havel bei Liebenwalde ist ein Genuss für sich: prächtige Alleen, schöne Feldsteinkirchen wie in Wensickendorf oder Sonnenblumenfelder bis zu Horizont. Unser Ausgangspunkt Liebenwalde präsentiert sich als schmuckes kleines Städtchen. Im Zentrum dominiert das herausgeputzte Rathaus, und auch in den Nebenstraßen sind, teilweise wohlrestauriert, typisch märkische Häuser und Straßenzüge zu sehen. Eine himmlische Stille liegt über der Landschaft.

Paradox ist: Man fährt raus in die Natur, um die schöne Landschaft Brandenburgs zu genießen, und sieht auf der Kanutour fast gar nichts davon. Das Ufer ist ein bis drei Meter höher als der Wasserspiegel. Zum Kennenlernen einer weiten Landschaft ist eine Kanuwanderung nun wahrlich nicht geeignet. Dafür gibt es Fuß- oder besser noch Radwanderungen. Der Reiz einer Wasserwanderung auf einem schmalen Fluss wie der Havel liegt im unmittelbaren Nahbereich, dem Wasser und dem Ufer. Und das hat es an der Havel in sich.

Zunächst faszinieren die Seerosenfelder. Schon von weitem hübsch anzusehen, sind sie aus der Nähe eine wahre Augenweide. Bei der Annäherung ist Vorsicht geboten, um mit dem Paddel keine Zerstörungen anzurichten. Reizvoll sind auch die mit Schwertlilien bewachsenen Ufer.

Eines muss an dieser Stelle allerdings ganz klar und deutlich gesagt werden: Eine Kanuwanderung über einen schmalen, urtümlichen Fluss wie die junge Havel ist nichts für Leute mit einer Insektenphobie. Die reichhaltige Flussflora bietet den Insekten ein ideales Refugium. Zahlreiche Libellen in einem schillernden Blaugrün huschen wie Hubschrauber elegant über die Wasseroberfläche, alleine oder im fliegenden Paarungsdoppelpack. An vielen Stellen hängen die Äste fast bis in das Wasser. Dann heißt es für den Kanuten oder Paddler: Augen zu und ab durch die Zweige! Kurz nach der Passage ist das Boot mit diversen blinden Passagieren versehen. Hektisch versuchen die Spinnen ein neues Versteck zu suchen. Liebe Leute, es muss aber bitte nicht gerade das Hosenbein oder der Paddlernacken sein.

Die Libellen und Spinnen sind aber völlig harmlos. Etwas anders sieht es mit den Mücken aus. Macht sich dies während der Fahrt auf dem Fluss kaum bemerkbar, stürzen sich die Quälgeister bei einer Foto- oder Essenspause mit Hurra auf ihre Opfer. Ah, endlich mal wieder fettes Großstädterblut!

Erfahrene Wasserwanderer können die Länge einer geplanten Tour relativ sicher abschätzen: soundso viele Kilometer pro Stunde plus ein allgemeiner Verzögerungszuschlag. Für die alte Havel kann man diese Rechenart vergessen. Zu häufig sind die gymnastischen Rückenübungen, zu oft die Fotopausen, zu unkalkulierbar das Fortkommen.

Parallel zur alten Havel verläuft, teilweise nur einhundert Meter entfernt, der Vosskanal. Für Kanuten ist er recht uninteressant, da dort Motorbootverkehr herrscht (vor allem am Wochenende) und die Strecke gerade und mit einem künstlichen, öden Steinufer versehen ist. Der Verlauf des Kanals ist eher ein weitgehend autofreies Revier für Radwanderer, die auf dem seitlich verlaufenden Treidelweg dem Gewässer folgen können. Früher diente dieser Weg dem Ziehen der Lastkähne, dem so genannten Treideln. Pferde oder sogar Menschen zogen die Kähne am Seil durch das Gewässer. Der Kanal diente nach seiner Erbauung dem Transport von Baumaterial von den Tongruben und Ziegelfabriken bei Zehdenick nach Berlin. Heute ist der Treidelweg entlang des Vosskanals ein optischer Genuss erster Klasse, denn zwischen Kanal und Havel besteht eine uralte Baumallee aus Ahorn, Birken und Kastanien. In der Ferne markieren lange Pappelreihen den Verlauf von Gräben und Bächen. Auf den Wiesen spaziert Meister Adebar, und hoch oben ziehen Greifvögel kreisend ihre Bahnen.