Zum Golde drängt nicht alles

„Sie dachten wohl,hier könnten sie machen, was sie wollen. Ein Irrtum“

aus Esquel INGO MALCHER

Vom Drei-Zinnen-Berg aus gesehen ist Esquel ein unscheinbarer Ort. Ein quadratisch geordnetes Straßendorf, zwischen Feldern und Bergen, dahinter die mächtig drohenden Anden. Um die Mittagszeit bewegt sich kaum ein Auto auf den Straßen, kein Geschäft ist geöffnet. Selbst die Wachtürme des Gefängnisses an der Avenida Amegino sind zur Zeit der Siesta nicht besetzt. Ein Ort in der abgelegenen argentinischen Provinz Chubut, 1.923 Kilometer südlich der Hauptstadt Buenos Aires, vergessen, verloren, verschlafen.

Doch der Eindruck trügt. Esquel ist ein rebellisches Dorf. Dem Goldkonzern Meridian Gold Inc. haben die Bewohner von Esquel fast eine Milliarde Dollar Verlust beigebracht. Nicht gerade wenig für ein Nest, in dessen Umgebung mehr Schafe leben als Menschen. „Sie haben uns unterschätzt“, sagt Viviana Moreno. Die Chemikerin sitzt hinter ihrem Mikroskop im medizinischen Labor und untersucht eine Urinprobe. „Sie dachten einfach, hier könnten sie machen, was sie wollen. Ein Irrtum.“

Aber von vorn. Vor etwas mehr als einem Jahr hat Viviana Moreno in der Lokalzeitung El Oeste gelesen, dass in ihrer Stadt eine Goldmine geplant sei. Der kanadische Konzern Meridian Gold habe eine Hügelkette gekauft, um dort Gold abzubauen. Drei Millionen Unzen vermutet die Firma in dem Berg – Grund genug, ihn abzugraben.

Zunächst ging es Viviana Moreno wie fast allen in Esquel: Eine Goldmine! Das kann nur gut sein für den Ort. 28.000 Menschen leben in Esquel, 6.000 davon sind arbeitslos. Viviana Moreno selbst hat drei Jobs, um sich und ihre zwei Kinder über Wasser zu halten. Alles, was Arbeit verspricht, ist daher willkommen in Esquel, besser: war willkommen. Der Sinneswandel kam schleichend. Zunächst wurde das Hotel Mayka gegenüber ihrem Labor weiß gestrichen und in ein Verwaltungsgebäude umgewandelt. Ein plumper Betonkasten, mit vier Stockwerken das höchste Gebäude im Ort. Die Scheiben im Erdgeschoss sind schwarz getönt, so dass man nicht hineinsehen kann. Das macht misstrauisch: Hat hier jemand etwas zu verbergen?

Nicht nur Viviana Moreno bemerkte bald: Meridian Gold hat einiges zu verbergen. Plötzlich war von Sprengstoff, der nicht knallt, die Rede; davon, dass ein ganzer Berg zermahlen würde; von Zyanid, einer Chemikalie, mit der das Gold vom Gestein getrennt wird. Als Chemikerin bekam Viviana Moreno eine Ahnung, was das alles bedeutet.

Sie fing an nachzuforschen. Und sie war nicht die Einzige. Ihre Freundin Silvia Gonzalez, Dozentin für Biochemie an der Nationalen Universität Patagoniens in Esquel, durchforstete die Bibliothek, suchte in Zeitschriften und lud aus dem Internet megabyteweise Studien herunter, die ihr erklärten, was in ihrer Stadt vor sich ging. Denn das, was Meridian Gold sagte, war sehr wenig. Fragen wurden nicht so beantwortet, dass eine promovierte Wissenschaftlerin sich damit zufrieden geben konnte. „Sie hielten uns schlicht für dumm“, sagt sie.

Silvia Gonzalez hat langes schwarzes Haar und eine eindringliche Stimme. Sie erklärt schnell und schematisch. Auf ihrem Esstisch liegen Ordner mit Studien und Diagrammen, die sie entworfen hat. Pro Tag, doziert sie, werden 42.000 Tonnen Stein aus dem Drei-Zinnen-Berg gesprengt, der dann vermahlen wird. Das Mehl wird in einem Becken mit Zyanid vermischt, um das Gold vom Stein zu trennen. So entstehen Goldsalze. Sechs Tonnen der hochgiftigen Chemikalie werden dafür täglich gebraucht. „Eine Messerspitze davon tötet einen Menschen“, sagt Gonzalez.

Aber das Zyanid ist nicht die einzige Gefahr der Mine, die kaum sieben Kilometer vom Ort entfernt ist. „Die glänzenden Goldbarren werden zum Wohle der Firma nach Kanada verschifft – uns bleibt nur der Dreck.“ Bei der Mine lagert dann ein schillernder Cocktail aus Zyanid-verseuchtem Felsenstaub, Schwermetallen und Säuren, der langsam ins Grundwasser zu sickern droht und giftige Gase in die Atmosphäre abgibt.

Sie hat Routine darin, über die Mine zu reden. Über 30 Vorträge vor Ärzten, Schülern und Nachbarn hat sie schon gehalten. Aber nicht alle wissen das zu schätzen. Am Telefon wurde ihr gedroht: Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen. Ihrem Mann zeigte ein Unbekannter eine Pistole. Sie machte trotzdem weiter: „Ich hielt es einfach für nötig, die Leute aufzuklären“, sagt sie. Und so entstand eine Bewegung, die es im vergessenen Patagonien mit dem Konzern Meridian Gold aufnahm.

Antonio Nadal war von Anfang an mit dabei. In Esquel nennen sie ihn nur den „Gallego“, den Galicier, weil die Argentinier alle Spanier Galicier nennen. Antonio Nadal kam vor 20 Jahren aus Madrid als Skilehrer nach Patagonien und hat sich in Esquel niedergelassen. Von seinem Wohnzimmerfenster aus sieht er auf den Drei-Zinnen-Berg, auf dem es heute morgen geschneit hat. Nachts zieht er los und spioniert aus, wie die Leute von Meridian Gold Probebohrungen vornehmen – die Scheinwerfer verraten sie. Er zählt die Lichter und weiß dann, wie viele Löcher wieder in den Felsen gebohrt wurden.

Antonio Nadal ist ein Glücksucher, einer von denen, die nie untergehen. Er verdient sein Geld mit einem Fernsehprogramm über die Schneeverhältnisse für Wintersportler. In Esquel glaubt er sein Paradies gefunden zu haben. „Das ist ein magischer Ort: Man kann das Wasser aus den Bächen trinken, es gibt herrliche Berge, Früchte, Fische, es bleiben auf dem Planeten nur noch wenige Orte wie Patagonien“, sagt er.

Doch sieht er weniger sein Lebensprojekt durch die Mine gefährdet, sondern „den Planeten“. Ihn gilt es zu verteidigen. Deshalb ließ Nadal im Ort verbreiten, dass sich alle, die gegen die Mine sind, zusammentun sollten. Zum ersten Treffen kamen 200 Menschen, zum zweiten schon 600. Das machte ihm Mut. Nadal sammelte Unterschriften, um den Bürgermeister zu einer Volksabstimmung zu zwingen.

Es schien aussichtslos. Erst als hunderte Demonstranten das Rathaus bei einer Stadtratssitzung besetzten, hatten die Volksvertreter ein Einsehen und stimmten für ein Referendum. Aber damit nicht genug: Gleichzeitig eröffnete Gustavo Mocayo eine zweite Front. Der Rechtsanwalt studierte die Umweltschutzgesetze und fand zahlreiche Verfahrensfehler – mit Erfolg. Am 19. Februar verfügte ein Richter den sofortigen Baustopp. Seither ruht die Baustelle auf dem Drei-Zinnen-Berg. „Der Gerichtsentscheid war unser wichtigster Sieg, aber ohne den Druck aus dem Dorf wäre das nicht möglich gewesen“, sagt er.

Moncayo ist ein ungewöhnlicher Anwalt. Um kurz nach zwölf Uhr mittags steht er mit Strubbelhaar und Schlafanzug in seiner Haustüre. „Es ist gestern spät geworden“, sagt er. „Habe bis vier Uhr morgens in einer Kneipe Musik gemacht.“ In der Küche setzt er Wasser auf, füllt einen Becher mit Mateteepulver und zupft an getrockneten Salbeiblättern die Stile ab. „Salbei ist gut für Herz und Seele“, sagt er. Es ist angenehm warm in der Küche, draußen pfeift ein eisiger Wind, es regnet und schneit im Wechsel. Als Rechtsanwalt vertritt Mocayo sonst nur Indígenas – und verdient damit keinen Cent. Auch als Dozent an der Universität in Esquel bekommt er kaum Geld. Um sich sein juristisches Engagement leisten zu können, arbeitet er tagsüber in einem Buchladen in Esquel.

Es ist Sonntag, der 23. März 2003. Am Morgen berichtet der lokale Radiosender „FM del Lago“: „Die Wahllokale sind leer, es steht niemand Schlange wie sonst.“ Der Tag des Referendums. Die lokalen Medien stehen fast alle auf der Seite der Minenbefürworter. Meridian Gold hat für sein Millionenprojekt hart gekämpft. Am Freitagabend spielte sogar Ráfga, eine Cumbia-Combo aus Buenos Aires in Esquel. So etwas hatte die Stadt noch nie gesehen.

Zuvor war Sonderbares geschehen. Ein in den Vereinigten Staaten lebender Toxikologe namens Javier Walksman tauchte in Esquel auf. Er sei in Buenos Aires gewesen, um seine Großmutter zu besuchen. Dort habe er erfahren, was in Esquel los ist, und er sei sofort gekommen, fabulierte er. Die Lokalzeitung El Oeste protokollierte seinen Vortrag: „Zyanid verschmutzt weder Umwelt noch Wasser.“ Dumm nur, dass kurz zuvor der Hafenmeister von Puerto Madryn, dem nächst gelegenen Hafen, beschlossen hatte, er werde aus Sicherheitsgründen kein Schiff löschen, das Zyanid geladen hat.

Schließlich strahlte der lokale Fernsehsender Kanal 4 kurz vor dem Referendum Bilder aus, die zeigen, wie eine gelbe, gelatineartige Masse in einem Bach klebt, in dessen Nähe die Meridian Gold Probebohrungen vorgenommen hat. Hinter der Kamera: Antionio Nadal, der „Gallego“. Mehrere Tage war er durch die Wildnis gezogen, um nachzusehen, was auf dem Gelände der Mine passierte. Der Geologe Walter Soechting von Meridian Gold versuchte im Fernsehstudio zu erklären, dass die gelbe Schicht im Wasser ganz natürlich sei. Aber in seinem Gesicht war zu lesen, dass er die Schlacht verloren gab.

Und wie verloren sie war. Am Abend des 23. März verkündet FM del Lago das Endergebnis des Referendums: „81 Prozent stimmten mit Nein, 18 Prozent mit Ja.“ Seither hat Esquel einen neuen Schlachtruf: „Nein bleibt Nein: Haut ab.“

Doch das Referendum ist rechtlich nicht bindend. Meridian Gold ist noch immer da und spielt auf Zeit. Am Tag nach dem Referendum stürzte der Aktienkurs des Konzerns ins Bodenlose. Den Verlust, den die Esquel-Mine beschert, beziffern Mitarbeiter auf fast eine Milliarde Dollar.

Walter Soechting sitzt in dem Verwaltungsgebäude seiner Mine im Stadtzentrum am Schreibtisch und schaut aus dem Fenster. Er ist ein starker großer Mann. „Das Dorf wurde betrogen“, sagt er. Umweltgruppen hätten erfolgreich die Öffenlichkeit manipuliert. „Gut möglich, dass wir gehen“, sagt er. Aber selbst wenn es dazu kommt, wäre die Goldmine in Esquel nicht aus der Welt. „Das Wahrscheinlichste ist, dass Meridian Gold verkauft, der neue Besitzer die Mine zehn Jahre liegen lässt und dann anfängt.“

Weil aber noch nichts sicher ist, gehen die Bewohner von Esquel immer mal wieder gegen Meridian Gold auf die Straße und bewerfen die Zentrale mit Farbeiern, faulen Orangen und überreifen Tomaten. Wird es ihnen tatsächlich gelingen, das Projekt eines gigantischen Konzerns zu verhindern? „Rational würde ich sagen, wir können das nicht schaffen“, sagt Viviana Moreno, „aber es sind in letzter Zeit so viele irrationale Dinge passiert, dass ich sage: Ja.“