Neuer Prozess um totes Baby

Vor dem Landgericht wird der Tod eines misshandelten Babys neu verhandelt. Im ersten Prozess war die Mutter verurteilt worden. Doch sie bezichtigt nun den Vater

Sie habe das fünf Monate alte Baby auf ihr Bett gelegt und dann den Einkauf aus dem Kinderwagen geholt. So schildert die 24-jährige Angeklagte Sabrina R. jenen Mittag im November 2006, an dem ihr Sohn so schwer verletzt wurde, dass er fünf Tage später starb. Seit Montag wird der Tod des kleinen Santino erneut vor dem Landgericht verhandelt.

Im Dezember 2007 wies die 22. Strafkammer unter Vorsitz von Peter Faust die schuldunfähige Mutter dauerhaft in die Psychiatrie ein. Doch ihre Verteidiger legten Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) ein. Der hob das Urteil auf, weil das Landgericht die Beweise, die gegen eine Schuld der Angeklagten sprechen, nicht genug gewürdigt hatte. Nun hat die 29. Große Strafkammer den Fall übernommen.

Dies war schon einmal so im Verfahren gegen die Arzthelferin Monika de Montgazon: Die hatte angeblich ihren Vater bei lebendigem Leib verbrannt, um ihn vorzeitig beerben zu können. 888 Tage verbrachte sie unschuldig im Gefängnis, bis die 29. Kammer unter Vorsitz von Angelika Dietrich im April 2008 feststellte, das Feuer sei durch den im Bett rauchenden Vater ausgelöst worden und die Angeklagte freisprach. Offen scheint nun auch der Ausgang in dem Verfahren gegen Sabrina R. Der BGH hält es für möglich, dass es einen anderen Täter gibt: Benjamin W.

In den elf Tagen der ersten Verhandlung hatte die pummelige Sabrina R. nur einen Satz gesagt: „Ich bin unschuldig.“ Doch im zweiten Anlauf will sie kämpfen, so ihr Verteidiger Mirco Röder. Diesmal schildert sie selbst den Tathergang: Ihre Tür habe offen gestanden, so sei ihr früherer Lebensgefährte in ihre Wohnung gelangt. In einem kurzen Streit habe er sie als „Schlampe“ beschimpft und dann mit seinem Sohn auf dem Arm die Wohnung verlassen. Sie sei den beiden später gefolgt.

Benjamin W. habe sie nicht mehr gesehen, dafür aber Santino, der unter dem Reifen eines geparkten Autos lag. Erschrocken habe sie gedacht: „Ist der jetzt tot oder was?“ Sie habe unter Schock gestanden, sei weggerannt und den ganzen Tag S-Bahn gefahren. Bei der Polizei erklärte die psychisch Kranke, sie habe gar kein Kind. Schnell bewies man ihr das Gegenteil und wertete die Äußerung als das Abstreiten der Tat.

Doch bald beschuldigte sie Benjamin W. Auch der BGH fand dafür viele Anhaltspunkte, denen die 22. Kammer nicht gründlich genug nachgegangen war. W. mochte keine Kinder, das bestätigte auch seine Bewährungshelferin, der er offenbarte: Es sei ein Zufall, dass der Junge noch keine Schläge abbekommen habe. „Ohne den Kleinen war es viel schöner“, soll er zu Sabrina gesagt haben. Weil er sie oft schlug, flüchtete Sabrina kurz vor der Tat mit ihrem Sohn zu ihren Eltern. Als sie ihre Sachen von W. abholte, drohte der ihr: „Ich mach dich und den Kleinen fertig!“

Völlig verängstigt seien Mutter und Sohn gewesen, beschrieb Sabrinas Stiefvater. Erst nach zwei Wochen zuckte der Kleine nicht mehr ständig zusammen. Sabrina bat ihre Eltern, W. niemals ihre neue Adresse zu verraten. Das ist nun dessen stärkstes Alibi. Für die Tatzeit selbst hat er keines. Doch der BGH moniert, es gebe „zahlreiche Anhaltspunkte“, dass W. die neue Adresse seiner ehemaligen Lebensgefährtin gekannt habe.

Merkwürdig ist auch das Telefonat, welches W. am frühen Nachmittag des Tattages mit seinem Stiefvater führte: Er habe im Radio von einem verletzten Kind gehört und mache sich nun Sorgen, es könne sich um seines handeln, weil Sabrinas Eltern in dieser Gegend wohnen würden. Warum schloss er von einer derart allgemeinen Nachricht auf sein eigenes Kind?

Für die 22. Strafkammer kam niemand anderes als die Angeklagte für die Tat in Betracht. Es traute Benjamin W. nicht zu, sich so raffiniert zu verstellen. „In dubio pro reo kann man nur geben, wenn man Zweifel hat“, sagte Richter Faust im Dezember 2007. „Wir haben keinen.“ Möglicherweise kommt die 29. Kammer auch diesmal zu einem anderen Ergebnis. UTA EISENHARDT