Ohne Platten bis nach Frankfurt

AUS SANGERHAUSEN STEPHAN KOSCH

Nicht weit von der Fahrradfabrik strahlt noch immer der Sowjetstern. Russische Soldaten und stolze Bergleute reichen sich vor dem Finanzamt die Hände – auf Schiefertafeln. Überbleibsel des Kupferbergbaus, wie auch dieser riesige Erdkegel, der über Sangerhausen thront wie über Rio der Zuckerhut. Die Straßen unterhalb der schmuddeligen Abraumhalde sind fein herausgeputzt, die Stadt am Rande des Harzes hofft auf Tourismus. Das macht man heute so, wenn sonst nicht viel geht. Wenn die Arbeitslosenquote bei 25 Prozent liegt. Der Gardinenladen nebst Puppen sogar „Tierimitationen“ im Angebot hat und eine Ich-AG auf einem Auto gleich für drei Dienstleistungen wirbt – „Erfolgsimpulse, Fotografie, Dudelsackmusik“.

Very old Economy

Hierher kommt die Firma, auf die die Aktienmärkte große Hoffnung setzen: die Mitteldeutsche Fahrradfabrik, kurz Mifa. Als erstes deutsches Unternehmen seit gut zwei Jahren wagt sie den Schritt an die Börse. Zwei haben es in diesem Jahr schon versucht und kurzfristig doch wieder zurückgezogen. Und jetzt ausgerechnet ein Fahrradhersteller. Very old Economy statt Internet oder New Media.

Die Räder aus dem Harz waren in der DDR zwar weit verbreitet, doch wenig geliebt. Man wollte lieber ein „Diamant“. Manche sagen, es lag dran, dass sie diesen breiten Lenker hatten. Und schönere Farben. Dass die zweite Sorte Räder aus volkseigener Produktion wirklich besser war, behauptet niemand. Ein „Diamant“ aus Karl-Marx-Stadt war schwerer zu bekommen, vielleicht machte es allein das schon beliebter.

Schmähsprüche gab es jedenfalls vor allem für die grauen Mäuse aus Sangerhausen: „Wer Mifa fährt, fährt nie verkehrt, weil Mifa überhaupt nicht fährt.“ „Ein Stück Gummi, ein Stück Draht, und fertig ist das Mifa-Rad.“ – Das sind die harmlosen Varianten. Es ging auch derber: „Wer Mifa fährt, ist Dresche wert.“

Das alles interessiert Peter Wicht nicht. Der 48-jährige Chef der Fahrradfabrik weist zwar pflichtbewusst darauf hin, dass die Mifa ja schon lange vor der DDR gegründet wurde, 1907 nämlich. Dann nimmt er einen großen Schluck aus dem bunten Kaffeepott und widmet sich lieber der Gegenwart. Sein stahlblaues Polohemd leuchtet vor dem einzigen Fenster des kargen Besprechungsraums, das den Blick in die Fabrikhalle freigibt. „Da draußen fallen viereinhalb Räder pro Minute runter“, sagt er.

An den Montagebändern schrauben einige Dutzend Hände aus nackten Rahmen und vielen Teilen ein Fahrrad. Heute ein Mountainbike, morgen ein Damenrad, je nach Bestellung. Eine rote Anzeigentafel verkündet die Zahl der fertigen Räder: 4.000 am Tag, 535.000 im vergangenen Jahr.

Doch auf den meisten steht gar nicht Mifa drauf. Drei von vier Rädern landen bald in irgendeinem Aldi, Kaufland oder Metro und tragen Namen wie Cyco oder Travel. Denn das ist das Geschäftsmodell, das Wicht mit einem Partner schon bei dem Computerhersteller Hurycan verfolgt hat: Kaufe die Einzelteile möglichst billig in der ganzen Welt, schraube sie in Deutschland zusammen und verkaufe das Resultat da, wo man auf den Cent achtet – in Warenhäusern und Discountern. Hurycan ist seit vier Jahren an der Börse und hat an Wert gewonnen.

Der Erfolg war aber damals noch nicht sicher, als Wicht beim Computerteile-Kauf in Fernost immer wieder auch Händler traf, die Fahrradteile zusammenkauften. „Läuft super“, hatten die jedes Mal gesagt. Und den Jungunternehmer Wicht aus den neuen Ländern beruhigte die Vorstellung eines möglichen zweiten Standbeins. „Man weiß ja nie.“ Und weil das so ist, gründete Wicht 1993 gemeinsam mit seinem Hurycan-Partner auch noch die „Wichts Bike-In“, putzte Klinken bei den Kaufhäusern und hatte Erfolg. Die Kunden orderten bald mehr, als die neue Firma produzieren konnte. Da traf es sich gut, dass die Mifa bereits zum zweiten Mal nach der Wende zum Verkauf stand.

„Man nannte uns Investor“, erinnert sich Wicht, der vor allem einen Haufen Schulden hatte. Mit dem geliehenen Geld kaufte er gebrauchte Maschinen in ganz Europa, baute sie für seinen Zweck um und hauchte der Mifa neues Leben ein. Seit 2000 schreibt das Unternehmen schwarze Zahlen und ist mittlerweile zweitgrößter Fahrradproduzent Deutschlands. Als Vorstand für alles kümmert sich Wicht jetzt nur noch um die Mifa.

Und die soll nicht berühmt werden für Räder mit besonders schickem Design oder High-Tech. Einer wie Wicht, der „aus Zeitgründen“ privat eher das Auto nutzt als seine eigenen Produkte, denkt ökonomisch. So einer träumt von der „effizientesten Fahrradfabrik“ in ganz Europa. So einer will so billig produzieren, dass der Transport eines Rades von Warschau oder gar Peking nach Deutschland nicht mehr lohnt. Und die Hände, die sonst im Gespräch still aneinander reiben, brauchen plötzlich Platz auf dem Tisch. „Tschack-bumm-tschack-bumm“, sagt Wicht, die Arme werden zur Maschine. „Fahrradspeichen kann man schon für einen Cent produzieren!“

„Ohne Brimbamborium“

Was krämerhaft klingt, kommt im alten Rathaus am Markt gut an. Hier führt ein PDS-Bürgermeister die Geschäfte, für die Wirtschaftsförderung ist Brigitte Franke zuständig – kein leichter Job. Zwar sei schon viel passiert, sagt die blonde Frau pflichtgemäß. „Aber es ist uns noch nicht gelungen, so viele Arbeitsplätze neu zu schaffen, wie uns durch Insolvenzen kaputtgehen.“ In den kommenden Jahren soll die Balance gehalten werden, von zusätzlichen Jobs spricht hier noch keiner. Die wären so wichtig wie kaum in einer anderen Stadt Deutschlands. In der Arbeitslosenstatistik lag der Bezirk Sangerhausen im April bundesweit an Platz zwei.

Noch immer drückt die Last der Wendejahre, als der Bergbau eingestellt wurde. Das kostete 6.000 Arbeitsplätze auf einen Schlag, auch in der Maschinenbaufabrik Mafa blieben von gut 1.000 Stellen nur ein paar Dutzend über. Die Mifa, die vor der Wende auch 800 bis 1.000 Leute beschäftigt hat, ist mittlerweile mit rund 400 Arbeitsplätzen der größte Arbeitgeber der Stadt. Hier gibt es zwar auch kein Tarifgehalt, aber immerhin einen festen Job. Frau Franke ist voller Lob für Peter Wicht. „Ohne Brimbamborium und Brustklopfen“ mache der seine Arbeit. Solche Betriebe stünden immer gut da, „egal wo sie herkommen, ob Ost oder West“. Dass es der Mifa aber gut getan habe, dass Wicht ein Ossi ist, das sagt sie dann aber doch.

Es klingt nach schlechten Erfahrungen. Und in der Tat ist man hier noch mächtig sauer auf die beiden Schweizer, die ersten Nachwende-Investoren bei bei der Mifa. Viel will Frau Franke dazu eigentlich nicht sagen, sie druckst ein wenig herum, spricht von „Unebenheiten in der Entwicklung“. Dann wird sie deutlicher. Bis auf das Knochenmark hätten die Schweizer den Betrieb „runtergefahren und ausgesaugt“.

Eine müde Mark

Eine müde Mark hatten die Schweizer auf den Tisch gelegt. Wicht musste der Treuhand für das Firmengelände und die Hallen annähernd 3 Millionen Mark zahlen. Und Fördermittel für das Unternehmen gab es keine, nur zur Erschließung des Grundstücks flossen 800.000 Euro aus der Staatskasse. Den Kauf finanzierte Wicht mit Krediten. Und noch immer muss er viel mit den Banken reden, weil die Großaufträge der Warenhauskonzerne vorfinanziert werden müssen.

Das soll jetzt anders werden, deshalb geht die Mifa an die Börse. Deshalb besuchten in den vergangenen Wochen die Journalisten fast im Stundentakt die Fabrik. „Das muss halt jetzt sein“, sagt Wicht, der in der sensiblen Zeit vor dem Börsengang der Einzige war, der über die Mifa Auskunft geben durfte. Die Märkte sind ein scheues Reh, ein unbedachtes Wort hätte den Gang auf das Parkett verpatzen können. Denn dort tummeln sich auch Skeptiker.

Die deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz zum Beispiel hält den Fahrradmarkt für gesättigt. Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger kreidet Wicht mangelnde Transparenz an. Erst im Prospekt zum Börsengang sei deutlich geworden, dass die Mifa auch Kredite von der Hurycan in Höhe von 20 Millionen Euro bekommen habe. Das hätte vorher „deutlicher kommuniziert werden sollen“, sagt Vorstandsmitglied Markus Straub. „Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind zurzeit das Allerwichtigste.“

Die Börse ist noch immer traumatisiert von den Blendern der New Economy. So mancher vermeintliche Millionärsmacher endete vor Gericht. Das virtuelle Vermögen vieler Aktionäre implodierte. Die Mifa ist für viele Anleger offenbar ein Gegenmodell. Denn in der Woche vor dem Börsengang wurden mehr Aktien reserviert, als auf den Markt kommen werden. „Überzeichnet“ heißt dies im Fachjargon. Und das hat man an der Börse schon lange nicht mehr gehört.