PERSPEKTIVEN-KONGRESS
: Das neue Gesicht der Protestkultur

Jeder Kongress hat neben dem offiziellen Thema immer auch ein inoffizielles. Auf dem „Perspektiven-Kongress“ in Berlin, der am Wochenende maßgeblich von der Gewerkschaft Ver.di und den Globalisierungskritikern von Attac veranstaltet wurde, lautete das inoffizielle Thema: Wie viele Jüngere kommen zu solch einer Veranstaltung? Die Antwort darauf war gleich zu besichtigen. „Links“ ist nicht mehr gleichbedeutend mit „jung“.

KOMMENTAR VON BARBARA DRIBBUSCH

Die Protestierer sind inzwischen genauso alt wie der Bevölkerungsdurchschnitt, der bei etwa 40 Jahren liegt. Diese Szene hat die Struktur einer Großfamilie: FriedensaktivistInnen im Alter von 70, GEW-Lehrer um die 50 und StudentInnen von Attac im Alter von 25 Jahren. Auf dem Kongress trafen sich drei Generationen unter einem Dach – wobei sich die Älteren besonders freuten, wenn Jüngere zu sehen waren.

Das bedeutet aber eben nicht, dass links zu sein ein Auslaufmodell ist – sondern dass sich die Protestkultur heute anders definiert als noch vor zwanzig, dreißig Jahren. Denn als bedrängt oder benachteiligt empfinden sich heute viele. Rentner fühlen sich von der Politik genauso im Stich gelassen wie sparbedrohte Sozialarbeiter oder StudentInnen, denen ein vorgezeichnetes Leben im Karrierestress Grausen bereitet. Die Verweigerung von Markt und Konsum ist nicht mehr an Jugend gebunden. Der Identitätsdruck einer Gesellschaft, die den individuellen Aufstieg, die Selbstvermarktung predigt, trifft heute Menschen in allen Lebensphasen. Wahrscheinlich leiden Ältere künftig sogar mehr darunter als Junge.

Der Wunsch, dem Druck zur Selbstvermarktung Verweigerung entgegenzusetzen, war daher überall auf dem Kongress zu spüren. Das fing beim uneitlen Kleidungsstil an, jener gelassenen Unsexyness, die auch von Kirchentagen bekannt ist. Und er zeigte sich in den Arbeitsgruppen, wo Globalisierungskritiker über Einkommensgefälle und gerechtere Steuersysteme aufklärten wie auf einer Volksuni.

Als psychologische Aufrüstung gegen den individuellen Vermarktungsdruck sind solche Veranstaltungen bedeutsam. Die Gegenkultur lebt, sie sieht heute aber etwas anders aus als früher: Die Linke ist zum Mehrgenerationenprojekt geworden. Mit allen erstaunlichen Wendungen: Vielleicht trägt der soziale Protest künftig immer häufiger das Gesicht des Alters. Vielleicht wird es sogar zum biografischen Muster, im Alter plötzlich links zu sein. Das wäre dann ganz neu.