Seit 10 Jahren gilt das Asylrecht nur noch halb

Durch die Verfassungsänderung von 1993 ist die Zahl der Asylbewerber von jährlich 400.000 auf rund 100.000 zurückgegangen. Ohne die Genfer Flüchtlingskonvention wäre Deutschland heute ein nahezu flüchtlingsfreies Land

BERLIN taz ■ „Jeder Asylant ist ein SPD-Asylant“, lautete die Parole der CDU Anfang der Neunzigerjahre. Sie hatte so lange gegen das Grundrecht auf Asyl gehetzt, bis die SPD schließlich nachgab. Am 1. Juli 1993, morgen vor zehn Jahren, trat die Grundgesetzänderung in Kraft.

Für viele Sozialdemokraten war das großzügige Asylrecht als Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus eigentlich unverzichtbar. Doch nach dem krisenhaften Umbruch in Osteueropa stiegen die Asylbewerberzahlen in Deutschland so stark wie nie, das stellte die Kommunen vor logistische Probleme. Mehr als 400.000 Menschen kamen allein im Jahr 1992.

Selbst die rechtsradikalen Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen konnten die CDU-Kampagne nicht mäßigen. Im Gegenteil: Auch für die Ausschreitungen wurde die SPD verantwortlich gemacht, weil sie die Menschen überfordere.

Am 6. Dezember 1992 gab die SPD in den Petersberger Beschlüssen schließlich auf. Ein halbes Jahr später, am 26. Mai 1993, lag der neue Grundgesetzartikel 16a dem Bundestag zur Abstimmung vor. Nur 6.000 Menschen demonstrierten damals vor dem Bonner Parlamentsgebäude.

Nach der Verfassungsänderung steht der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ zwar immer noch im Grundgesetz. Auf das Grundrecht kann sich aber nicht berufen, wer aus einem Staat kommt, der per Gesetz als „sicherer Herkunftsstaat“ definiert wurde. Das Gleiche gilt für Menschen, die über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist sind.

Vor allem diese Regelung ist perfide. Weil Deutschland von vermeintlich sicheren Staaten umgeben ist, muss ein Flüchtling heute mit dem Flugzeug ankommen, damit er sich aufs Grundgesetz berufen kann. Die Flughafenregelung mit ihren extrem kurzen Fristen sorgt dann aber für neue Schikanen. Das Bundesverfassungsgericht hat das neue Asylrecht 1996 dennoch im Wesentlichen akzeptiert.

Die Folgen waren spürbar. Flüchtlinge, die an der Grenze aufgegriffen werden, können heute einfach zurückgeschickt werden, selbst wenn sie deutlich um Asyl bitten. Abschreckend wirkte auch das damals neu eingeführte Asylbewerberleistungsgesetz. Danach erhalten Flüchtlinge in der Regel Sachleistungen und nur wenig Taschengeld in bar.

Die Zahl der Asylanträge sank deutlich, ab 1994 lag sie wieder bei rund 100.000 pro Jahr. Deutschland verlor seine Stellung als attraktivstes Asylland in Europa inzwischen an Großbritannien. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl liegt die Bundesrepublik mittlerweile sogar im unteren Mittelfeld.

Allerdings haben sich auch die düsteren Prophezeihungen der Asylgruppen nicht erfüllt. Deutschland ist durch die Verfassungsänderung kein flüchtlingsfreies Land geworden. Ein Teil der Antragsteller kann sich immer noch auf das Asylgrundrecht berufen, da er tatsächlich mit dem Flugzeug anreist.

Die deutlich größere Gruppe kommt aber wie bisher auf dem Landweg nach Deutschland. Diese Flüchtlinge schlüpfen durch die grüne Grenze, verschleiern ihren Reiseweg und können dann in keinen Drittstaat zurückgeschickt werden. Zwar ist ihnen das Asylgrundrecht verwehrt, denn durch irgendeinen sicheren Drittstaat müssen sie ja gekommen sein. Aber sie erhalten zumindest ein Asylverfahren nach der Genfer Flüchtlingskonvention.

Solange Deutschland die Konvention nicht kündigt, wird es also auch Asylverfahren geben. Allerdings werden die Flüchtlinge durch die Drittstaatenregelung faktisch gezwungen, auf Schleuser zu vertrauen und dann die Papiere zu vernichten. Die Praktiken, die die Politik lauthals beklagt, hat sie mit ihrer Abschottungsstrategie selbst verursacht.

Ein bloßes Asylverfahren ist allerdings noch keine Anerkennung. Doch auch die Anerkennungsquoten sind höher, als viele denken. Nach Abschluss von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren liegen sie je nach Jahr zwischen 10 und 25 Prozent der Antragsteller. 2001 wurden besonders viele Flüchtlinge als politisch Verfolgte anerkannt, 2002 besonders wenige.

Politischer Hauptschauplatz ist inzwischen die Europäische Union. Seit 1999 versuchen Kommission und Ministerrat, einheitliche Standards für die Anerkennung von Flüchtlingen, für das Asylverfahren und für die Lebensbedingungen auszuhandeln.

Hauptbremser ist dabei Deutschland. Otto Schily und die CDU/CSU haben gemerkt, dass die EU-Kommission und die anderen EU-Staaten durchaus zu halbwegs großzügigen Regelungen bereit wären. Im Moment geht gar nichts voran, denn die Bundesregierung will die Union nicht vor vollendete Tatsachen stellen, wenn im Herbst das deutsche Zuwanderungsgesetz neu ausgehandelt wird.

Dabei wäre ein passables EU-Asylrecht eine schöne Geste zum Jahrestag der Grundgesetzänderung gewesen. CHRISTIAN RATH