Oma pupst Löcher in den Stuhl

Wie aus der Verrückung des Wirklichen und des bloß Gedachten Theater werden kann: Die Inszenierung „Kennen wir uns nicht aus Biarritz?“ im Magazin der Staatsoper arbeitet mit verhaltensgestörten Kindern und Alzheimerpatienten

Die Straße ist weg. Und die Mauer, genau hier, neben der Wohnung? Wo ist die hin? Überall Bauarbeiter. Kann ich vielleicht auf Raten zahlen? Sätze aus einem absurden Theaterstück könnten das sein, aber hier beschrieben sie die sehr wirkliche Welt von Menschen, deren Gehirn sich weigert, all die alltäglichen Umstände des Ortes und der Zeit zu speichern, in denen sie ihr Leben verbringen.

Die Krankheit ist nach dem Neurologen Alois Alzheimer benannt, aber das muss man nicht wissen, um Adriana Altaras Inszenierung zu verstehen. Vielleicht ist es nämlich gar keine Krankheit, sondern eine sehr geistreiche Verrückung der Koordinaten des Wirklichen und bloß Gedachten. Das ist der Stoff, aus dem das Theater schon immer gemacht ist, und eine Stunde lang dürfen nun Kinder, junge Einwanderer und Alte zusammen zeigen, dass sie die großen Rollen tatsächlich spielen können, die in ihnen stecken. Man muss ihnen nur Gelegenheit dazu geben.

Dass ausgerechnet die Staatsoper dafür Zeit und Geld aufbringt, ist eines der Wunder dieses Abends. Ein anderes ist das liebevoll heitere, von jeder sozialarbeiterischen Sorge und Mitleid völlig freie Zusammenspiel dreier Generationen: Ein halbes Duzend Kinder, junge Einwanderer (ein Chilene, eine Türkin und zwei Türken) und Alte aus dem Altersheim wagen es, aus ihrer verschlossenen Innenwelt herauszuspielen, was sie bewegt. Einige der Kinder leiden am so genannten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, einige der Alten an akutem Alzheimer.

Schon vor der Premiere steht eine der alten Damen auf und geht. Sie hat vergessen, dass jetzt das Stück anfängt. Sie wird zurückgeholt, später erzählt sie fröhlich, dass sie nachts, wenn sie schläft, keine Träume hat. Wozu auch? Niemand ist in diesem Theater ein Patient, Symptome sind Talente, und vor allem den Kindern gelingt es in unglaublich intensiven Augenblicken, ihre Angst und Wut, aber auch Hoffnungen und Glücksvorstellungen auszusprechen.

Tragische, vom kleinen Orchester melodramatisch düster untermalte Momente enthält diese verschobene Welt, hauptsächlich aber ist sie komisch. Die Oma pupst Löcher in den Stuhl, sagt ein Mädchen, Opa grapscht aber auch wirklich nach jeder Frau. Wir sind im Tanzcafé, denn dort hat die Dramaturgin Ilka Steifert die Alten tatsächlich gefunden, die nun hier an den Tischen sitzen und auf ihren großen Augenblick warten. Zwei Sänger und eine Sängerin im Ruhestand singen noch einmal die alten Schnulzen von den roten Rosen und der grünen Heide. Diese Erinnerung bleibt, und die Einwanderer verstehen ebenso wie die Zappelkinder, dass man den Rest am besten vergisst.

Zwar klingt ihre Musik ganz anders, ein wenig davon hat der Komponist Benjamin Rinnert versucht einzufangen, aber es ist ihm nicht recht gelungen. Macht nichts. Das wahre Leben ist eben eine Operette, jener ewige Walzertraum, den Adriana Altaras ein altes Paar verkörpern lässt, das die ganz Länge der Aufführung hindurch stumm, von nichts gestört im Dreivierteltakt durch den Raum schwebt.

Ohne Nostalgie, sondern mit dem gehörigen, hintergründigen Witz spielt das Orchesterchen dazu ein wenig Berliner Operette. Ganz so, als sei die gar nicht vergangen, nur ein wenig vergessen. Das können sie perfekt, und eben darin liegt der große Unterschied: Das ist keine Therapiesitzung, sondern die wirkliche Staatsoper, und diese Menschen verdienen kein Mitleid, sondern genau den großen, echten Applaus, den sie nach der Premiere bekommen haben.

NIKLAUS HABLÜTZEL

„Kennen wir uns nicht aus Biarritz?“, Magazin der Staatsoper, 18., 19., 21. Mai, 19 Uhr; 23. Mai, 18 Uhr